Eine Stellungnahme der Kaiserin-Auguste-Viktoria-Kommission für Prävention bei der DGSPJ.

Ab Mitte März 2020 waren in Deutschland wegen der COVID-19-Pandemie die Schulen und Kindertagesstätten vorübergehend geschlossen oder konnten nur tage- oder stundenweise öffnen. Ein vollständiger Präsenzbetrieb zum neuen Schuljahr war zwar von allen Seiten erwünscht, konnte aber bis Herbst 2020 nicht durchgehend aufrechterhalten werden.

In der Zeit der Schulschließungen mussten nicht nur fast alle Kinder von den Eltern zu Hause betreut werden, sie durften auch einige Wochen nur in Begleitung die elterliche Wohnung verlassen. Es wurde zudem dringend abgeraten, sie außerhalb der elterlichen Wohnung von den Großeltern oder von Freunden der Familie betreuen zu lassen.

Weder die Kindertagesstätten und Schulen noch Erzieher/innen und Lehrer/innen waren darauf organisatorisch, technisch und didaktisch vorbereitet, auch nicht die meisten Familienhaushalte, die Eltern und die Schüler. Dazu kam das auch bei Fachleuten mangelnde bzw. widersprüchliche Wissen um die Art und die Gefährlichkeit dieses neuen Virus und die Sorge vor Ansteckung und deren Folgen.

Seit Juni 2020 wurden die Einschränkungen der physischen Kontakte zwar in raschen Schritten gelockert, sodass mit Beginn der Sommerferien sogar Ferienreisen – vor allem im Inland – wieder möglich wurden. Aber viele Verhaltensweisen der physischen Distanzierung (körperliche Nähe zu anderen, Grußverhalten, Mund-Nasen-Schutz) müssen weiterhin beachtet werden und bestimmte "riskante" Gruppenaktivitäten, z. B. spezifische Sportarten oder Chorsingen, bleiben vorerst – und auf unbestimmte Dauer – eingeschränkt.

Die neuen Verhaltensnormen wurden weitgehend in die Verantwortung des Einzelnen bzw. der Eltern gelegt. Sie sollen diese Verhaltensweisen bei ihren Kindern einüben. Sorgen, dass vor allem Kleinkinder durch das Tragen der Masken und die notwendigen Einschränkungen psychische Störungen entwickeln, haben sich in größerem Umfang bisher nicht bestätigt. Die sehr große Mehrheit der Jugendlichen hat sich ebenfalls in großem Umfang an die Regeln gehalten, mussten dabei aber auf wichtige Rituale verzichten (Konfirmationen, Schulende-Feiern, Abiturfeiern, Teilnahme an Festivals usw.). Die Lockerungen in vielen Bereichen vor allem für Erwachsene sorgten hier für Frustrationen und zum Teil zurückgehendes Verständnis für die Maßnahmen [1].

Corona-Pandemie befördert stressbedingte Faktoren

Da es keinen direkten Modellfall für die Corona-Situation gab, warnte man schon früh vor den möglichen Gefahren durch gestresste Eltern – vor allem wegen der psychischen Belastung bei der kontinuierlichen Betreuung ihrer Kinder. Man befürchtete, dass es vermehrt zu Gewaltausbrüchen, Interaktions- und Gefühlsstörungen kommen würde. Dazu kamen die allgemeine wirtschaftliche und finanzielle Verunsicherung sowie Ängste vor einer Ansteckung und ihre möglichen Folgen. Stress könnten auch die plötzlich notwendigen Veränderungen im Tagesablauf bringen, z. B. durch weniger Bewegung und vermehrt ungesundes Essen. Eine Studie im Auftrag des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen (NZFH) zu den Belastungen von Familien mit Kindern aus der Sicht der Fachkräfte bestätigt diese Annahme [2].

In den ersten Wochen nach Beginn des Lockdowns gab es jedoch eher weniger Meldungen über kritische Familienkonflikte. Ab Anfang Juli nahmen dann aber die Meldungen der Kinder- und Jugendarztpraxen, der Beratungsstellen, Jugendämter und Frauenhäuser zu und scheinen negative Auswirkungen auf die psychische Gesundheit von Kindern zu bestätigen. Genaue Zahlen liegen aber noch nicht vor.

Es ist durchaus möglich, dass die ersten 3 bis 4 Wochen von vielen Familien wegen ihrer klaren und einfachen Ansagen (kein Ausgang außer zum Arzt oder Einkauf) und ihrer (vermeintlichen) zeitlichen Begrenzung psychisch besser zu verkraften waren als die dann folgenden schrittweisen und sich fast täglich ändernden Lockerungen. Jedenfalls zeigen Studien mit Kindern von an Epilepsie erkrankten Müttern (und anderen erkrankten Eltern), dass sie mit klaren, wenn auch schwereren Krankheitssymptomen besser umgehen können als mit leichten, die sich weniger eindeutig allein der Erkrankung zuordnen lassen [3].

Je nach Lebensalter und kognitiver/sozialer Entwicklung ist zu erwarten, dass die Kinder und Jugendlichen die Coronazeit anders erleben:

  • Für Babys und Kleinkinder ist vor allem die körperliche und sozial-emotionale Nähe ihrer Bezugspersonen absolut wichtig. Sie reagieren sehr fein auf Stress und Gereiztheit ihrer Bezugspersonen, genießen es aber, wenn diese sich mit mehr Zeit und Muße mit ihnen beschäftigen. Babys und Kleinkinder sind dann besonders gefährdet, wenn deren Eltern sehr gestresst sind, vor allem, wenn die Bezugsperson die ganze Zeit mit ihnen alleine ist. Um diese Überlastung vor allem von alleinerziehenden (meist) Müttern künftig zu mildern, wäre es sinnvoll, so etwas wie Etagengemeinschaften – quasi eine Art Großfamilie – zu bilden, wo man sich gegenseitig helfen und abwechseln kann.
  • Kinder im Kita- und Grundschulalter vermissen – außer dem physischen Auslauf – vor allem ihre sozialen Kontakte, sei es zu Gleichaltrigen oder zu Verwandten, z. B. den Großeltern. Gegenüber früheren Zeiten gibt es heute viele elektronische Möglichkeiten, sozial-emotionale Nähe weiterhin zu ermöglichen, auch bei körperlicher und räumlicher Distanz, etwa durch Telefon und Skype.
  • Im Schulalter kommt schriftlicher Informationsaustausch über digitale Medien hinzu. Hier wäre aus sozialpolitischer Sicht zu überlegen, ob den vielen Familien in Armutssituationen solche technischen Möglichkeiten zur Verfügung gestellt und gesichert werden könnten, wie in früheren Jahren der Besitz eines Radios. Insbesondere für die Durchführung von Online-Unterricht ist dies eine zwingende Voraussetzung.
  • Jugendliche und Heranwachsende erleben Kontakteinschränkungen wie unter den Corona-Bedingungen vermutlich als ganz besonders einschränkend. Sie erproben sich gern in Risikosituationen und kalkulieren Gefahren ungern ein; sie überschätzen gern ihre Unverwundbarkeit etc., Verbote werden nicht unkommentiert hingenommen und eben auch nicht immer akzeptiert und es bedarf kontinuierlicher Aushandlungsstrategien.

Resilienzen und neue Lernprozesse

Die besondere Corona-Situation löste bei etlichen Familien aber bei Weitem nicht nur bedrohliche Folgen aus, sondern hat auch zu ungewohnt neuen Erfahrungen und zu kreativen Lösungen von Problemlagen geführt. Hierdurch wurden auch Erfahrungen von Resilienz und positiver Persönlichkeitsentwicklung möglich.

In diesem Sinne sollen nachfolgend einige präventive Chancen vorgestellt werden, auf die von Vertretern der positiven Psychologie, z. B. in den Newslettern der APA (American Psychological Association) und der SRCD (Society for Research in Child Development) hingewiesen wird.

Darin wird betont, dass durch die aktuellen Einschränkungen Eltern und Kinder viel gemeinsam lernen können, z. B.

  • mehr Mitgefühl miteinander zu entwickeln,
  • mehr Solidarität mit anderen, z. B. durch Nachbarschaftshilfen,
  • aktive, wenn auch nicht körperliche Kontaktaufnahmen mit Angehörigen und Freunden,
  • Förderung von Achtsamkeit bei den Kindern – sowohl für andere als auch für sich selbst.

Beispiele dafür sind

  • das gemeinsame Vereinbaren von Tagesplänen mit konkreten Zielen, z. B. bei den Arbeits- und Schulaufgabenzeiten, bei der Hausarbeit, beim gemeinsamen Kochen, bei abendlichen Zu-Bett-Geh-Zeremonien etc.,
  • gemeinsame regelmäßige Körperübungen,
  • geistige Anregungen, z. B. gemeinsames Lesen und Gemeinschaftsspiele,
  • eine klare Regulierung der Benutzung digitaler Medien usw.

Zur Bekämpfung negativer Gefühle werden genannt:

  • sich abends fragen, was der Tag an schönen und nicht so schönen Erlebnissen gebracht hat,
  • sich fragen, wofür man dankbar ist,
  • wie ich eigene Erwartungen reduzieren kann,
  • wie ich mich mehr im Freien aufhalten kann,
  • wie ich etwas Schönes für mich oder für andere gestalten kann,
  • wie ich Stress vermeiden bzw. mit ihm umgehen kann,
  • wie ich das Gefühl der Hilflosigkeit vermindern kann usw.

Auch auf der ständig aktualisierten Homepage der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) wird das seelische Wohlbefinden in der Corona-Zeit berücksichtigt. Dazu wird empfohlen,

  • den Tag zu strukturieren,
  • für sich selbst gut zu sorgen,
  • Kontakte trotz Abstandhalten zu pflegen,
  • Verlässliche Informationen zu nutzen.

Bei akuten Belastungen gibt es unter www.bzga.de vielfältige Hilfsangebote mit Telefonnummern für Erwachsene und für Kinder.

Von der englischen Psychotherapeutin Philippa Perry ist kürzlich ein viel beachtetes Buch auch in Deutschland erschienen "Das Buch, von dem du dir wünschst, deine Eltern hätten es gelesen" (Ullstein 2020, 304 Seiten). Darin schildert sie aufgrund eigener Erfahrungen die angespannte Situation in vielen Familien und macht Vorschläge, wie Eltern mit negativem Verhalten der Kinder zurechtkommen können – wie sie sie besser verstehen, vorbeugend Krisen abfangen und sich gegebenenfalls auch bei ihrem Kind entschuldigen.

Auch der deutsche Kinderarzt, Blogger und Sachbuchautor Herbert Renz-Polster sieht in der aktuellen Situation Chancen, die er in seinen Büchern, u. a. "Menschenkinder – artgerechte Erziehung – was unser Nachwuchs wirklich braucht" (Kösel 2016, 256 S.) vertreten hat. Er fordert aktuell mehr Unterricht im Freien ab dem 4. Lebensjahr. Für ihn sind Kinder keine "Hygiene-Roboter", die sich in geschlossenen Räumen nur noch nach Vorschrift verhalten dürfen.

Für Professionelle in Medizin, Pädagogik, psychologischer Beratung etc. ist es in der aktuellen Situation wichtiger denn je, Verunsicherungen zu vermeiden, die eigene Persönlichkeit gegenüber äußeren Anfeindungen zu stärken, Fehler einzugestehen und vergeben zu können – kurz, für sich selbst und sein Klientel Resilienz zu fördern. Dabei sollte sowohl an die Kinder als auch an die Erziehungsverantwortlichen gedacht werden. Die Beziehung der Erwachsenen untereinander vermittelt auch den Kindern Sicherheit. Dazu gehören auch

  • akzeptable Wohnbedingungen und Bewegungsmöglichkeiten vor allem für Schulkindern zu Hause und in den Erziehungs- und Bildungseinrichtungen,
  • die Fähigkeit, selbst gesundes und preiswertes Essen zubereiten zu können,
  • eine gute Grundbildung, auch in den Naturwissenschaften, und gutes Sprachverständnis, nicht nur bei den Kindern, sondern auch bei ihren Eltern,
  • kulturelle Aktivitäten und deren Wertschätzung, auch bei verminderten Außenkontakten.

Viele dieser Ratschläge sind für verunsicherte Eltern und ihre Berater zumindest teilweise sinnvoll und hilfreich. Als Kinder- und Jugendärzte sollten wir aber auch auf die sozialpolitische Ebene Einfluss nehmen, die den Rahmen für die Lebensbedingungen der Familien durch Gesetzgebung und öffentliche Finanzen wesentlich mitbestimmt. Dennoch sind die wichtigsten Faktoren, mit den aktuellen Einschränkungen zurechtzukommen

  • stabile sozioökonomische Verhältnisse, d. h. vor allem ein ausreichendes und regelmäßiges Einkommen und Schutz vor Wohnungsverlust,
  • regional angemessene und flexible sozialpolitische Maßnahmen und ihre verständliche Vermittlung, um so ein (durchaus kritisches) Vertrauen in die Gesundheitspolitik zu fördern und zu wahren.

Fehlen Einsicht und Vertrauen der Eltern in die verordneten Maßnahmen, dann besteht die Gefahr, dass sie dies als ungerechtfertigt und zu stark einschneidend erleben und grundsätzlich ablehnen. Diese Haltung wird sich auf ihre Kinder übertragen, die, je nach Alter und Persönlichkeit, dadurch zusätzlich verunsichert und verängstigt bzw. aufsässig und aggressiv werden können.

Sozialpädiatrische Prävention in den Fokus rücken

Aller Voraussicht nach werden wir uns in Deutschland noch viele Monate mit dem Corona-Virus bis weit ins Jahr 2021 hinein auseinandersetzen müssen. Neben den vielen Einschränkungen und Vorsichtsmaßnahmen sollten dabei aber auch die positiven Aspekte der Pandemie wahrgenommen werden.

Für die oft schwierigen Entscheidungen der Politik sollten aus Sicht einer sozialpädiatrischen Prävention folgende Aspekte berücksichtigt werden:

  • Neben dem notwendigen Infektionsschutz auf ausreichende Bewegungsfreiheit für die Kinder achten, d. h. möglichst keine oder nur unbedingt notwendige Schließung von Kinderspielplätzen und öffentlichen Grünanlagen.
  • Positive Beispiele für das Alltagsleben geben, z. B. in Form von Sketchen etc. in Radio und Fernsehen.
  • Unterstützung von Familien mit deutlich unterdurchschnittlichem Einkommen, insbesondere von Alleinerziehenden und bei Migrationshintergrund.
  • Unterstützung von Kitas, Schulen und anderen öffentlichen und privaten Einrichtungen bei der Aufrechterhaltung einer adäquaten Kinderbetreuung.
  • Neben den infektiologischen Fragestellungen in den laufenden und geplanten wissenschaftlichen Projekten auch die psychosozialen Auswirkungen auf die Erwachsenen und die Kinder berücksichtigen.

Dieser Text ist auch auf der Homepage der DGSPJ und in der Zeitschrift KINDERKRANKENSCHWESTER 39 (2020) 272 – 275 veröffentlicht.

Literatur
1. Andresen S, Lips A, Möller R, Rusack T, Schröer W et al. (2020) Erfahrungen und Perspektiven von jungen Menschen während der Corona-Maßnahmen. (Open Access) https://dx.doi.org/10.18442/120https://dx.doi.org/10.18442/120
2. NZFH (2020) Explorative Ad-hoc Befragung von Gesundheitsfachkräften in den Frühen Hilfen. https://www.fruehehilfen.de/forschung-im-nzfh/forschung-zu-corona/befragung-vongesundheitsfachkraeften-zu-den-veraenderungen-durchcorona/gesundheitsfachkraefte-zur-situation-in-familien/ zugegriffen am 23.06.2020)
3. Titze K, Koch S, Lehmkuhl U, Rauh H (2001) Psychische und familiäre Belastungen bei Kindern von Müttern mit Epilepsie. Kindheit und Entwicklung 10: 114 – 123


Korrespondenzadressen
Prof. i.R. Hellgard Rauh
Department Psychologie
Universität Potsdam
14476 Potsdam

Prof. i.R. Dr. H.M. Straßburg
97218 Gerbrunn

Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2020; 91 (6) Seite 456-460