Supervision kann z. B. helfen, Arbeitsprozesse zu verdeutlichen, Tabuisiertes besprechbar zu machen, zu entlasten und die Motivation zu stärken – auch in sozialpädiatrischen Institutionen und Zentren.
Die Sozialpädiatrie mit fast flächendeckenden Zentren (SPZ) und spezialisierten vertragsärztlich arbeitenden Kolleginnen und Kollegen sowie Fachkliniken und Abteilungen an Kinderkliniken hat sich in den letzten Jahrzehnten rasant entwickelt und das ehemalige Nischendasein hinter sich gelassen. Gut abgesicherte, familienfreundliche Arbeitsplätze meist ohne Wochenend- und Bereitschaftsdienst, oft in Teilzeit mit zumeist klarer Terminstruktur im Kreis fachlich versierter Kolleginnen und Kollegen – davon träumten viele in anderen Kliniken und Praxen. Doch die Strukturen wurden zunehmend brüchiger: die Finanzen auf "Kante genäht", die fachlichen Anforderungen immer vielseitiger, das Klientel schwieriger: Das Soziale droht unter die Räder zu kommen und auch der politische Rückhalt dafür ist zunehmend weniger en vogue. Die interprofessionellen Absprachen in den Teams werden mühevoller, die Hierarchiepyramide spitzer, die Arbeitsfreude sinkt, die Ratlosigkeit des Hilfesystems nimmt zu – auch wegen zunehmender Komplexität der Aufgaben – der Krankenstand steigt.
Und jetzt auch noch Supervision – wann denn?! Wir brauchen doch mehr Zeit für unsere Patientinnen und Patienten!
Die missverständliche Autonomie der Beschäftigten
Etwa seit den 1990er-Jahren fand in sozial geprägten Organisationen ein raumgreifender Prozess statt, der [1] als "missverständliche Autonomie" der Beschäftigten gekennzeichnet wurde. Ihr rollenbezogener Radius, ihr fachlich organisatorischer Handlungsspielraum wurden erweitert. Nicht erweitert wurde jedoch die Verantwortlichkeit bezüglich zentraler Ressourcen, wie Personalbemessung, Investitionen, Ertragsgestaltung.
»Die reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim Alten zu lassen und gleichzeitig zu hoffen, dass sich etwas verändert.«
Albert Einstein 1879 – 1955
Die Beschäftigten wurden motiviert, ihre Arbeitsleistung "eigenverantwortlich" zu entgrenzen und mit erhöhtem Krafteinsatz die Unternehmensziele zu erreichen. Selbst einschränkende strukturelle Bedingungen wurden (und werden!) als persönliche Herausforderungen dargestellt [2]. Folgen sind zunehmende Erschöpfung und die "Tragödie der erlebten Unzulänglichkeit" [3] in einer Gesellschaft, die somit das Scheitern in die Verantwortlichkeit des Individuums zurückverlegt. Hausinger [2] prognostizierte schon 2009, welche Themen in der Beratung eine hohe Wichtigkeit bekommen werden: Supervision ist gefordert zu verdeutlichen, welche Konsequenzen sich für Berufstätige ergeben können, wenn sie Arbeitsanforderungen stets als neue berufliche Herausforderungen annehmen, die sie bewältigen müssen. Wahrnehmung der eigenen Belastung, Umgang mit den eigenen Grenzen und Bewältigung des Rollendilemmas stehen auf der Agenda! – heute noch aktueller!
Einige unbeliebte Erkenntnisse zu Organisationen
Gerade in sogenannten sozialen Organisationen ist es beliebt, von "flachen Hierarchien" zu sprechen – besonders von Seiten der Führungsebene. Grundsätzlich sind jedoch alle Organisationen – überall – hierarchisch organisiert [4]. Hierarchie (wörtlich: "heilige Herrschaft") ist zugleich Ordnungs- und Herrschaftsprinzip. Organisationen verhalten sich regelmäßig wie undemokratische sozioökologische Nischen in einer meist anders organisierten Umwelt: Es gibt keine gewählte Regierung, keine Opposition, kein demokratisch organisiertes Parlament. Mitglied in einer Organisation zu sein bedeutet meist, dass durch eine Funktionsbeschreibung mitgeteilt oder bestenfalls ausgehandelt wird, welche Aufgaben einem zugewiesen werden. Grob unterteilt gibt es hierbei eine horizontale und eine vertikale Arbeitsteiligkeit. Horizontal bedeutet, dass unterschiedliche Abteilungen, Gruppen, Teams – ggf. an unterschiedlichen Orten – auf einer nahezu gleichen hierarchischen Ebene spezifischen Tätigkeiten nachgehen (Ambulanz, Station, Funktions-Therapie …). Damit das gelingt, benötigt es Koordination: die vertikale Ebene. Diese Übergeordneten steuern, weisen an oder auch zurecht, loben oder sanktionieren das (Arbeits-)Verhalten der Untergeordneten und haben dafür einen Machtvorsprung. Zur Organisationslogik gehört auch, dass man nie als ganzer Mensch gefragt ist, sondern als Funktionsträger – austauschbar bis in die Spitze der Führungsebene. Der "Rest" der Person ist im besten Fall vertraut oder erträglich, im schlechtesten Fall resultieren daraus für sie Frustration, Resignation und Krankheit [4]. Nun haben Organisationen die Eigenschaft, ihre Strukturen und damit ihre Stabilität zu schützen, indem sie alles unter der Decke – latent – zu halten versuchen, was diese Strukturen unkontrolliert verändern könnte ("Latenzschutz" nach Luhmann [5]). Dazu gehören auch die Kommunikation, die diese Latenz sichert, und immer auch die Herrschaftsverhältnisse selbst [6]. Diese Schutzmechanismen dienen der Funktionsfähigkeit der Organisation aber nur so lange, wie sie nicht verhindern, kritische Themen zu besprechen, die notwendig sind, um die Organisationsstrukturen zu verbessern. Wird in der Supervision Kritik an den Strukturen zu stark zugelassen, schlägt die anfängliche Euphorie, das "Kind beim Namen" nennen zu dürfen, oft in Angst und Abwehr um. Der Prozess wird als bedrohlich wahrgenommen und die Zusammenarbeit in der Supervision infrage gestellt.
Supervision kommt hier die Aufgabe zu, im Beratungsprozess diesen Latenzschutz so weit zu lockern, wie es die Bewältigungskapazitäten der Organisation erlauben und es dem Bedürfnis nach Transparenz und Vertrauen der Beschäftigten in die Strukturen dient. Vertrauen bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die Mitarbeitenden davon ausgehen dürfen, dass die Führungskraft ihre Macht nicht missbraucht [7].
Der überlastete Helfer – ratlos?
2006 hat die sehr renommierte Systemikerin und Lehrtherapeutin Marie-Luise Conen einen beachtenswerten Aufsatz verfasst: Die Ratlosigkeit des Helfers – eine Ressource! [8]. Sie schreibt von der zunehmenden Überschwemmung von Anforderungen in der Klientenarbeit und im administrativen Bereich. Dies erleben wir heute noch deutlich massiver in allen Gliederungen des Sozialsystems. Daraus resultiere z. B. eine Jagd auf Tagungen und Fortbildungen nach Konzepten und Rezepten für schnelle Lösungen zu hochkomplexen Anforderungen. Hierzu gehört auch die Beschäftigung mit nur einem lösbar erscheinenden Teilaspekt, unter – bewusster? – Vernachlässigung des eigenen Qualitätsanspruches nach Ganzheitlichkeit. Oder auch eine – unbewusste? – Abwehr durch Struktursetzung mit z. B. langen Wartezeiten, erheblichen bürokratischen Hürden und Fehlen eines niederschwelligen Zugangs. Zusätzlich lässt sich häufig eine sinkende Kreativität der Mitarbeitenden oder eine angeforderte "Weiterbildungsoffensive" zur eigenen Perfektionierung im Umgang mit der zunehmenden Ratlosigkeit feststellen. Hierzu gehört ggf. auch Supervision, die geordert wird, um doch noch einen möglichst raschen, lösungsorientierten Ausweg zu finden, um die Gefühle von Ohnmacht und auch Ärger über die vermeintlichen Verursacher, die Klienten, zu befrieden. Die allgemein verbreitete Erwartung, dass Menschen sich aufgrund von planbaren Interventionen oder manualisiertem Vorgehen verändern würden, ist Teil der vordergründig lösungsorientierten Machbarkeitsidee, die jedoch bei zunehmender Komplexität der Probleme häufig ins Leere läuft. Lebensgeschichtliche Zusammenhänge zu ergründen mit der Möglichkeit, die Symptomatik auf einer anderen, gefühlsmäßigen Ebene zu verstehen, geht zunehmend verloren. Auch wird oft außer Acht gelassen, dass Menschen in ihren inneren Gefühlen und Zuständen kaum instruierbar sind [9] und vermeintliches Problemverhalten auch ein Ausdruck von Lösungsversuchen der Klienten sein kann [10]. Um Ratlosigkeit auch als eine Ressource verstehen und vielleicht auch konstruktiv erleben zu können, wird es folgerichtig sein, sich mit der Sinnhaftigkeit von Problemen zu beschäftigen. Dazu gehört neben der Ratlosigkeit des Helfenden auch die Ratlosigkeit des Supervisors.
- hohe Multiprofessionalität
- fachlich und in der Rolle erfahren
- therapeutischer Anspruch
- - ganzheitlich
- - familienorientiert
- - im Netzwerk
- hohe Identifikation mit den Codes des Sozialen: Hilfe, Subjekt, Gemeinwohl
- fremdeln mit den Codes der Wirtschaft: Effizienz, Konkurrenz, Performance, Kosten/Nutzen, Gewinn
Input des Moderators zum Workshop: "Supervision in der Sozialpädiatrie" im Rahmen des "Forum Sozialpädiatrie" am 14. 03. 2024 in Essen.
Ergänzungen der Teilnehmenden am Workshop:
- Meist familientaugliche Arbeitszeiten
- Meist angemessene Zeit für die Patientinnen und Patienten
- Man darf und muss sich interprofessionell auseinander- und zusammensetzen
- unterschiedliche und widersprüchliche Haltungen (fachlich, organisatorisch, inter- und intraprofessionell), die zu selten Thema sein dürfen
- besondere Hierarchiestrukturen: oft unklar, nicht besprechbar, sogar tabuisiert
Anforderungen an Berater und Beratung
Das Gesundheitssystem ist seit Jahren eine Dauerbaustelle. Medizinischer Fortschritt, ökonomische Interessen, zunehmend schneller Wechsel von gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen und Prioritäten, streitige Interessen der großen Verbände im System. Wer definiert die Primäraufgabe? Heilen, Forschen, Ausbilden, die Codes des Sozialen, sind mit dem hohen Risiko der "Kostenexplosion" verbunden. Die Fixierung auf Kostenstruktur, Erlöse und Gewinne degradieren die Patientin bzw. den Patientenbestenfalls zur Kundin bzw. zum Kunden, entmenschlicht zur "Cashcow". Das daraus resultierende organisationale Dilemma beschreibt die Eisbergmetapher [11]: Oberhalb der Wasserlinie zeigen sich Abläufe, Strukturen, Entwicklungskonzepte, gesetzliche Bedingungen, die gerne von Alltagsbelastungen und Widersprüchen ablenken. Stimmungen, Erwartungen, Gefühle, Befürchtungen, Haltungen, treiben unter Wasser ihr Unwesen. Die Wasserlinie markiert die Linie des Abgedrängten, die Tabugrenze, aber auch die Schutzlinie zwischen dem Wissen um Bedingungen und dem Abdrängen der nicht beliebten Themen und Prozesse [12].
Supervision bedeutet eine besondere Qualität für die Organisation – hier die Sozialpädiatrie –, wenn es gelingt, Lernbereitschaft und -fähigkeit der Mitarbeitenden und der Organisation in einem Beratungsprozess zu unterstützen, der
- im Wechselspiel zwischen Individuum, Abteilung und Gesamtorganisation abläuft,
- Mitarbeitende einlädt, "Möglichkeitsfenster" (Kühl) zu nutzen, um kritische Aspekte der Organisation zur Sprache zu bringen und Beratende ermutigt, Tabus der Organisation aufzudecken,
- zu einem Austausch zwischen internen Abläufen und externen Erwartungen führt,
- zu einer erhöhten Problemlösefähigkeit intern und zur Integration neuer Aspekte beiträgt,
- zu anderen Formen unternehmerischen Tuns einlädt und sich der Ungewissheit kompetent und aufgeschlossen zuwendet,
- die Suche nach der Primäraufgabe aufnimmt und hilft, Prioritäten zu setzen [12].
- Arbeitsprozesse zu verdeutlichen
- die Rolle der Mitarbeitenden im Arbeitsprozess und die Rolle im Team zu reflektieren
- Leitungs- und Führungshandeln zu verbessern
- persönliche und organisationale Grenzen zu klären
- strukturelle Veränderungen zu unterstützen
- Erwartungen, Befürchtungen und Haltungen zu benennen
- Tabuisiertes besprechbar zu machen
- zu entlasten und Motivation zu stärken
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Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2025; 96 (3) Seite 196-200