Ende 2019 trafen sich Ärzte, Hebammen und Eltern beim Kongress „WIR – von Anfang an“, um im Dialog auszuloten, was es braucht, um die Geburtshilfe, die Schwangerenbegleitung und die Phase der frühen Kindheit zu stärken. Dabei sind 6 Forderungen herausgekommen.


Die interdisziplinäre Initiativgruppe "WIR – von Anfang an" hat im Rahmen des gleichnamigen Kongresses Ende Oktober 2019 in Stuttgart Handlungsfelder und Maßnahmen für eine bessere Versorgung rund um die Geburt und die neue Rolle als Familie herausgearbeitet. Die Idee zu diesem interdisziplinären Fachkongress entstand im Nachgang zum Kongress "Kindergesundheit heute" 2014 in Stuttgart.

Ausgangssituation

Die Versorgung von Familien während Schwangerschaft, Geburt und früher Kindheit ist in Deutschland von Über-, Unter- und Fehlversorgung geprägt. Personelle und finanzielle Engpässe, Druck und Stress bei allen Beteiligten sowie ökonomische und juristische Bedrohungen schaffen Bedingungen, die sich negativ auf die leibliche und seelische Gesundheit von Mutter und Kind auswirken.

Um die Versorgung nachhaltig zu verbessern, sind Rahmenbedingungen notwendig, die physiologische Schwangerschaft und Geburt fördern, die Gesundheit von Mutter und Kind als oberstes Handlungsziel anerkennen und dafür ausreichende personelle und finanzielle Ressourcen zur Verfügung stellen. Hierfür sind die Zusammenarbeit aller Beteiligten und ein Umdenken in der Gesundheitspolitik zwingend.

"WIR – von Anfang an" wurde gemeinsam veranstaltet: vom Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte Baden-Württemberg, vom Hebammenverband Baden-Württemberg e. V., vom Klinikum Stuttgart, von der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin e. V., der Filderklinik, der Genossenschaft der fachärztlichen Versorgung von Kindern und Jugendlichen e. G. (PädNetzS), der Gesellschaft Anthroposophischer Ärzte in Deutschland (GAÄD), der Bundeselterninitiative Mother Hood e. V. in Kooperation mit Frauenärzten und dem bisherigen Präsidenten der Landesärztekammer Baden-Württemberg.

Diese Initiativgruppe einigte sich am Ende auf die folgenden konkreten Maßnahmen:

1. Salutogenese als Grundhaltung

WIR fordern: Die Versorgung während Schwangerschaft, Geburt und früher Elternschaft muss sich an salutogenetischen Prinzipien orientieren. Die Salutogenese richtet den Blick darauf, wie Gesundheit entsteht und erhalten werden kann. Für die Begleitung von (werdenden) Familien bedeutet das, die individuellen Ressourcen von Mutter, Kind und Familie zu erkennen und zu stärken.

Begründung

Schwangerschaft und Geburt werden derzeit weitestgehend pathologisiert. Mögliche Risiken und Krankheiten treten in den Vordergrund. Die Verhältnismäßigkeit von Vorfreude und Vorsorge ist in Ungleichgewicht geraten.

Werdende Eltern bringen heute oftmals wenig praktische Erfahrung im Umgang mit Schwangerschaft, Geburt, Stillen und Säuglingen mit und haben ein großes Sicherheitsbedürfnis. Sie treffen auf ein Versorgungssystem, welches auf die Erkennung und Minimierung möglicher Risiken ausgerichtet ist. Es bietet wenig Zeit für die Stärkung und Förderung individueller Ressourcen. Die Konzentration auf mögliche Gefahren und die unzureichende Stärkung der Physiologie führen bei den Eltern zu Sorgen, Stress und Verunsicherung.

Stress bestimmt nicht nur die (werdenden) Eltern und das Fachpersonal, sondern wirkt sich nachweislich auch auf die Gesundheit des (ungeborenen) Kindes aus:
  • gestörte Ausreifung des Zentralnervensystems [1],
  • Zunahme von Allergien [2], die sich lebenslang auf die Gesundheit auswirken,
  • Diabetes-Risiko [3],
  • Bluthochdruck-Risiko [4].

2. Perspektivwechsel: Eltern im Mittelpunkt aller Handlungen

WIR fordern: Eltern und Kinder stehen als rechtlicher Souverän im Mittelpunkt jeden Handelns. Das geburtshilfliche und pädiatrische Fachpersonal muss die Elternrechte sowie die individuellen Ressourcen und Bedürfnisse der Familien anerkennen und das eigene Handeln danach ausrichten.

Medizinisch notwendige Untersuchungen und Eingriffe gilt es angemessen zu erläutern und Alternativen zu erklären, um Eltern eigene Entscheidungen zu ermöglichen. Austausch auf menschlicher Augenhöhe, bedarfsorientierte Begleitung und Beratung und das dadurch geschaffene Vertrauen stärken die Gesundheitskompetenz der Eltern.

In die Planung von Versorgungsstrukturen müssen Elternvertreter von Beginn an einbezogen werden, um eine familienzentrierte und bedarfsorientierte Versorgung zu gewährleisten.

Lokale Anlaufstellen (z. B. "Frühe Hilfen", Familienberatungsstätten, Elternvereine etc.) bieten flächendeckend Angebote und Präventionsprogramme, die die Eltern bei Bedarf nutzen können. Diese Angebote müssen entsprechend gefördert werden, um für die Eltern gut auffindbar sowie kostengünstig erreichbar zu sein.

Begründung

Eltern erleben häufig, dass sie zu Entscheidungen gedrängt werden beziehungsweise "über ihren Kopf hinweg" und ohne qualifizierte Aufklärung entschieden wird. Für selbstbestimmte Entscheidungen vor Untersuchungen und medizinischen Eingriffen brauchen (werdende) Eltern jedoch eine angstfreie Aufklärung sowie wissenschaftlich fundierte, verständliche Informationen. Rechtlich gesehen ist das medizinische Fachpersonal zwar zu einer ausführlichen Aufklärung verpflichtet. Doch Kommunikationsprobleme, Überlastung und Zeitmangel verhindern häufig einen zugewandten und sich an den Bedürfnissen der Familien orientierenden Austausch.

Das Erleben der eigenen Kompetenzen in dieser sensiblen Phase des Elternwerdens beeinflusst erheblich die Gesundheitskompetenz der Eltern. Erfahren sie, dass ihre individuellen Bedürfnisse nicht im Mittelpunkt von Entscheidungen stehen, droht ein Vertrauensverlust in ihre eigenen Fähigkeiten wie in das Gesundheitssystem.

3. Geburtshilfe muss bedarfsgerecht finanziert werden

WIR fordern: Die Geburtshilfe muss bedarfsgerecht und unabhängig von den Fallpauschalen des DRG-Systems (Diagnosis Related Groups) vergütet werden. Die aufwendige professionelle Begleitung einer physiologischen Geburt in Eins-zu-Eins-Betreuung (d. h. eine Frau pro Hebamme) sowie die Vorhaltekosten müssen durch die Finanzierung abgedeckt werden. Beratungsleistungen müssen besser vergütet, die aktive Kooperation aller Beteiligten mit finanziellen Anreizen gefördert werden.

Begründung

Schwangerschaft und Geburt sind lebensstiftende Vorgänge, die langfristige Auswirkungen auf die gesundheitliche Entwicklung von Mutter, Kind und der ganzen Familie haben. Ihre immense Bedeutung steht in deutlichem Widerspruch zu der im Vergleich mit anderen medizinischen Leistungen niedrigen Vergütung.

Gute und sichere Geburtshilfe vorzuhalten ist für Kliniken teuer, da zu jeder Zeit genügend Hebammen, Gynäkologen, Anästhesisten und ggf. Kinderärzte verfügbar sein müssen. Diese Vorhaltekosten und darüber hinaus der nicht planbare Zeitaufwand einer Geburt, werden in der derzeitigen Finanzierung über die DRG-Fallpauschalen nicht abgebildet. Vielmehr verursacht das DRG-System Fehlanreize, welche sich in Kombination mit Zeit- und Personalnot negativ auf die Gesundheit von Kind und Mutter (auch bei Folgeschwangerschaften) auswirken können.

So hat in den vergangenen Jahren der Einsatz medizinischer Maßnahmen zur Beschleunigung der Geburt (wie Geburtseinleitungen, Kaiserschnittgeburten) deutlich zugenommen.

Der ökonomische Druck in der Geburtshilfe führt außerdem zur Schließung von Geburtsstationen, infolgedessen die verbleibenden Kreißsäle überfüllt sind und Frauen unter Wehen abgewiesen werden müssen. Insbesondere in einigen ländlichen Regionen sind Schließungen für die Schwangeren mit längeren Anfahrtswegen von einer Stunde und mehr sowie mit gesundheitlichen Risiken – auch für das Kind – verbunden [5].

4. Interdisziplinäre Aus- und Weiterbildung und interdisziplinäres Arbeiten in Schwangerschaftsvorsorge und Geburtshilfe

WIR fordern: Eine in weiten Teilen gemeinsame Aus- und Weiterbildung aller an der Versorgung während Schwangerschaft, Geburt und früher Lebensphase des Kindes beteiligter Berufsgruppen fördert das interdisziplinäre Arbeiten und die Kommunikation miteinander. Dazu zählen beispielsweise Angebote in Aus- und Weiterbildung sowie Hospitationen. Dieser fach- und sektorübergreifende Austausch soll auch in der Berufspraxis fortgeführt werden.

Eine sektorübergreifende Qualitätssicherung aller Disziplinen soll geschaffen werden. Qualitätszirkel mit allen Beteiligten sollen etabliert werden, in denen auch die beratenden Stellen der "Frühen Hilfen" und die Schwangerenberatungsstellen themenbezogen eingebunden sind.

Die Kommunikation der unterschiedlichen Professionen miteinander sowie zwischen Fachpersonal und Eltern muss menschlich auf Augenhöhe stattfinden. Kostenfreie Elternseminare in der Schwangerschaft in Kooperation mit Hebammen, Pädiatern, Sozialpädagogen und Sozialarbeitern sollen als Standard finanziert werden, vergleichbar und zusätzlich zu Geburtsvorbereitungskursen. Die Kooperation mit den Frühen Hilfen ist anzustreben.

Eine gemeinsame Schwangerenvorsorge von Frauenärzten und Hebammen muss gesichert finanziert werden, die rechtliche Unschärfe geklärt werden.

Begründung

Arbeitsverdichtung, unklare Zuständigkeiten und Probleme in der Finanzierung sowie rechtliche Unschärfen führen zu Konflikten zwischen Gynäkologen und Hebammen, aber auch zwischen dem ambulanten und dem stationären Bereich. Dies erschwert die fachübergreifende Zusammenarbeit zum Wohle der Familien und verursacht Stress bei allen Beteiligten.

Ziel ist, eine frühzeitig verankerte, wertschätzende Kooperation von Eltern, Hebammen und Ärzten zu fördern. Vorurteile, Vorbehalte und Missverständnisse werden vermieden, die zu Lasten der Mütter und jungen Familien gehen. Respekt und Verständnis für die Arbeit des Anderen stärkt das Netz der Versorgenden zum Wohl der werdenden Familie.

5. Maßnahmen gegen demotivierende Berufsbedingungen

WIR fordern: Gut ausgebildete Fachkräfte benötigen Anreize, damit sie in das Versorgungssystem zurückkehren und gut zusammenarbeiten können. Dazu gehören veränderte Arbeitsbedingungen, wie eine 1:1-Betreuung während der Geburt, ein Abbau von Hierarchien und ausreichend Zeit. WIR fordern eine Neuordnung der Haftpflichtversicherungen aller geburtshilflich Tätigen sowie die solidarische und zukunftsfähige Klärung der Haftungsfragen bei Geburtsschäden.

Begründung

Der wachsende Personalmangel in der geburtshilflichen Versorgung beeinflusst direkt die leibliche und seelische Gesundheit von Mutter und Kind. Familien sind demnach die primär Betroffenen, wenn zu wenig Personal für die Begleitung während Schwangerschaft, Geburt und früher Lebensphase des Kindes verfügbar ist.

Der Personalmangel rührt von kontraproduktiven, demotivierenden Rahmenbedingungen her, die verändert werden können und müssen. Hebammen, Pflegefachkräfte und Ärzte finden keine angemessene Wertschätzung, Vergütung und Arbeitsbedingungen, die sie motivieren, rund um die Uhr in einem solidarischen Gesundheitssystem für die Versorgung von Mutter und Kind zur Verfügung zu stehen. Die Sorge vor Regressen und Klagen prägt maßgeblich das Handeln in der Schwangerenvorsorge und Geburtshilfe und motiviert im ärztlichen Handeln zu Überversorgung und Pathologie-orientierter Vorsorge.

6. Eltern und Fachpersonal fordern einen Nationalen Geburtshilfegipfel

WIR fordern: Im Interesse einer gesunden Gesellschaft und künftiger Generationen ist ein Nationaler Geburtshilfegipfel dringend nötig. Federführend muss hierbei das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) sowie das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) sein, unter Beteiligung aller relevanten Gruppen und Verbände.

Begründung

Eltern brauchen Versorgungsstrukturen, die ihnen und ihren Kindern bedarfsgerecht den bestmöglichen Start ins Familienleben ermöglichen. Der WIR-Kongress hat verdeutlicht, dass diese Strukturen in vielen Bereichen grundlegend verändert werden müssen, um die Anstrengungen ambitionierter Vertreter der Berufsgruppen wirksam zu machen.

Eltern und alle an der Versorgung während Schwangerschaft, Geburt und früher Lebensphase des Kindes beteiligten Berufsgruppen sind auf Entscheidungen der Politik angewiesen. Nicht nur die Berufsgruppen, sondern auch die politischen Akteure auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene fungieren dabei als Treuhänder der Rechte der Familien.

Dieser herausragenden Verantwortung müssen sich alle Beteiligten endlich stellen und gemeinsam an besseren Versorgungsstrukturen arbeiten. Ein Nationaler Geburtshilfegipfel ist dafür ein erster gemeinsamer Schritt!

Weitere Informationen finden Sie unter: www.wir-von-anfang-an.de

Literatur:
1. Mulkey SB, du Plessis AJ (2019) Autonomic nervous system development and its impact on neuropsychiatric outcome. Pediatr Res 85: 120 – 126
2. Flanigan C, Sheikh A, DunnGalvin A, Brew BK, Almqvist C, Nwaru BI (2018) Prenatal maternal psychosocial stress and offspring’s asthma and allergic disease: A systematic review and meta-analysis. Clin Exp Allergy 48: 403 – 414
3. Entringer S, Wüst S, Kumsta R, Layes IM, Nelson EL et al. (2008) Prenatal psychological stress exposure is associated with insulin resistance in young adults. Am J Obstet Gynecol 199: 498.e1 – 7
4. Van Dijk AE, van Eijsden M, Stronks K, Gemke RJ, Vrijkotte TG (2012) The Association between prenatal psychosocial stress and blood pressure in the Child at age 5 – 7 years. PLoS ONE 7: e43548. DOI:10.1371journal.pone.0043548.
5. Mutterschaftsrichtlinie (MuSchRL) Passus A 7 (https://www.g-ba.de/downloads/62-492-1829/Mu-RL_2019-03-22_iK_2019-05-28.pdf).

Autoren

Initiativgruppe für den Kongress WIR – von Anfang an: Lydia Abdallah¹, Katharina Desery², Jutta Eichenauer³, Roland Fressle⁴, Andreas Oberle⁵, Georg Soldner⁶, Gabriela Stammer |¹Landeskoordinatorin Mother Hood e. V. Baden-Württemberg; ²Vorständin Mother Hood e. V.; ³1. Vorsitzende Hebammenverband Baden-Württemberg; ⁴Landesvorsitzender Berufsverband Kinder- und Jugendärzte Baden-Württemberg; ⁵Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin; ⁶Kinder- und Jugendarzt, Leitung Akademie Gesellschaft Anthroposophischer Ärzte in Deutschland; ⁷Frauenärztin, Vorständin Gesellschaft Anthroposophischer Ärzte



Korrespondenzadresse
Dr. Andreas Oberle
Klinikum der Landeshauptstadt Stuttgart gKAöR
Olgahospital – Frauenklinik
Pädiatrie 1 – SPZ
Kriegsbergstraße 62
70174 Stuttgart
Tel.: 07 11/27 87 27 60
Fax: 07 11/27 87 24 29

Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2020; 91 (2) Seite 128-133