Das Thema Inklusion ist von der Politik und der Pädagogik stark vereinnahmt worden und wird ohne entsprechende Ressourcen und weitgehend unter Ausschluss der Pädiater umgesetzt. Auf der Strecke bleiben dabei gerade Kinder und junge Menschen, die von der Inklusion besonders profitieren sollten.

Auf diese Defizite hat Dr. Christoph Kretzschmar beim 114. Kongress für Kinder- und Jugendmedizin in Leipzig aufmerksam gemacht. Im Bildungssystem- und Politikbereich werde dabei über den Werdegang von Patienten entschieden, für die eigentlich die Kinder- und Jugendärzte oder andere Ärzte die ersten Ansprechpartner seien. Über die reinen medizinischen Belange hinaus müssten dabei zudem auch die sozialen Lebensbedingungen des Kindes miteinbezogen werden, forderte Kretzschmar als Kongresspräsident der 70. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin (DGSPJ).

Im Ergebnis führe dies dazu, dass für manche Kinder das gemeinsame Lernen ein Segen, für andere eine zu starke Belastung sein könne. Eine Regelschulklasse mit 25 Schülern kann laut Kretzschmar für einen Autisten gar zur "Folter" werden. Eine Regelschulklasse könne daher "sehr exklusiv sein, eine Förderschule durchaus inklusiv."

Schulen sind zu inflexibel

Die Erziehungswissenschaftlerin und Inklusionsforscherin Prof. Dr. Tanja Sturm aus Münster kritisierte beim Leipziger Kongress vor allem die inflexible Haltung vieler Schulen und deren Träger: "Wir verändern kaum die Schulen, in die inkludiert wird." Die Schule verharre weitgehend in ihren festgefahrenen Strukturen. 40 % aller Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf werden in Deutschland im Grundschulalter inklusiv beschult. Der Anteil inkludierter Kinder in weiterführenden Schulen sinkt aber dann stark ab. Somit könne das politische Postulat, Inklusion auf allen Ebenen zu verankern, derzeit nicht annähernd erreicht werden.

Dies liegt nach Ansicht von Prof. Michael Seidel, Facharzt für Psychiatrie und Neurologie aus Bielefeld, vor allem daran, dass die Politik die Inklusion immer noch weitgehend als Sparmodell sieht, in dem ohne großen finanziellen Aufwand und mit viel zu geringen personellen Ressourcen die ideologisch motivierte Inklusion in ihrer reinen Form "kompromisslos-rigide" durchgedrückt werden soll.

Inklusion als Leitbegriff für die Medizin

Deshalb forderte auch er die Ärzteschaft auf, sich viel stärker einzumischen und auch in den eigenen Reihen die Inklusion endlich als zentralen "Leitbegriff" zu sehen und danach zu handeln.

Dringenden Handlungsbedarf sieht auch die Selbsthilfe. Anne Wiedemann-Grolig von der Selbsthilfeorganisation von Kindern mit Speiseröhrenmissbildung (Keks e. V.) zählte in Leipzig eine ganze Latte von Problemen auf, mit denen zum Beispiel Kinder mit Speiseröhrenmissbildungen im Alltag konfrontiert werden. Kindergärten würden betroffene Kinder nicht aufnehmen wollen, weil sie zu stark husten oder Angst davor haben, dass ihnen das Essen im Hals steckenbleibt. Häufig würden sie deshalb auch beim Sport oder beim Kindergeburtstag ausgegrenzt. Deshalb würden weit mehr Integrationshelfer und Schulgesundheitsfachkräfte benötigt als derzeit vorhanden sind.

Schulgesundheitsfachkräfte sind derzeit lediglich in den beiden Bundesländern Brandenburg und Hessen fest etabliert. In Brandenburg arbeiten sie derzeit an 20 Schulen, wobei sich manche auf 2 – 3 Schulen aufteilen, berichtete Gudrun Braksch von der Arbeiterwohlfahrt Potsdam auf dem Leipziger Kongress. Zu ihren Aufgaben zählen die gesundheitliche Erstversorgung (Erste Hilfe), die Gesundheitsförderung (Sonnenschutz und Raucherprävention), die Früherkennung (unzureichende Mund- und Zahnhygiene) sowie die Unterstützung chronisch kranker Kinder.

Oberstes Ziel: Teilhabe verbessern

Im Inklusionsprozess sorgen so die Schulgesundheitsfachkräfte dafür, dass schwerwiegend kranke oder chronisch kranke Kinder wieder besser in die Schule reintegriert werden oder Kinder mit Diabetes besser versorgt und Kinder mit chronischen Bauch- und Kopfschmerzen über längere Zeit beobachtet und so besser behandelt werden können. Dies alles trage dann auch zu einer besseren Teilhabe der Schüler bei, weil sie besser in schulische Aktivitäten einbezogen werden können.

Das alles sind aber noch Ausnahmen, da die meisten weiteren Bundesländer – bis auf Schleswig-Holstein – bisher an Schulgesundheitsfachkräften kein großes Interesse zeigen. Kein Kind wird zurückgelassen, so lautete das Motto des Leipziger Kongresses. Wegen fehlender Fachkräfte und Integrationshelfer werden aber viele Kinder gerade bei der Inklusion zurückgelassen. Die Inklusion als politisches Dogma durchzuboxen, ohne dafür die räumlichen, personellen und finanziellen Strukturen zu schaffen, ist gescheitert, so das wenig ermutigende Fazit.

Inklusion mit Bedacht

Inklusion mit Bedacht, das war dann am Ende die zentrale sozialpädiatrische politische Botschaft dieses Kongresses. Dies wurde mit zahlreichen Forderungen auch von Seiten der DGSPJ untermauert. Dazu gehörte zum Beispiel, die strukturellen Rahmenbedingungen für die Inklusion zu verbessern und alle Schulformen weiter offenzuhalten, weil Förderschulen für manche Kinder einfach die bessere Alternative sind. Vor allem aber müssten künftig mehr Gesundheitsfachkräfte in Inklusionsschulen verankert werden.

Auch die Ärzte sollten ihren Sachverstand viel mehr einbringen können als dies derzeit der Fall ist. Inklusion müsse eigentlich bereits im Medizinstudium beginnen, hieß es am Ende in Leipzig.



Autor:
Raimund Schmid


Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2018; 89 (6) Seite 431-432