Kindesmisshandlung, Vernachlässigung und sexueller Missbrauch: Um diese Themen geht es im Wesentlichen in der Kinderschutzleitlinie. Welche Ziele verfolgt die Leitlinie genau und wie ist der Stand der Dinge? Eine Übersicht von Ute Thyen und Andreas Oberle.

Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) hat aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages die Entwicklung der Kinderschutzleitlinie über 4 Jahre gefördert. Ziele der Leitlinie sind der Zugewinn an Sicherheit im Wahrnehmen und Erkennen von und im Umgang mit Kindesmisshandlung, Vernachlässigung und sexuellem Missbrauch, die Erarbeitung von Handlungsempfehlungen für die Diagnostik der unterschiedlichen Formen von Kindesmisshandlung und die Erarbeitung von Handlungsempfehlungen für den Umgang mit anderen Professionen.

Ende 2014 wurde im Zentrum für Kinderheilkunde des Universitätsklinikums Bonn ein Leitlinienbüro unter der Leitung von Dr. Ingo Franke eingerichtet und es konnte auf höchstem wissenschaftlichem Niveau an der Leitlinie gearbeitet werden. Die Entwürfe der Handlungsempfehlungen sind dann Ende 2017 fertiggestellt worden und in den Konsentierungsprozess übergegangen. Die Leitlinie richtet sich nach dem in der Medizin vorgeschriebenen nationalen Standard, der durch das Regelwerk der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (www.awmf.org) definiert ist und auf den Grundlagen der evidenzbasierten Medizin (EBM) aufbaut. Durch die Beschreibung und Klärung der Schnittstellen im Zusammenwirken mit den Mitwirkenden der anderen Berufsgruppen soll zusätzliche Sicherheit und Transparenz gewonnen und die kindzentrierte bzw. fallorientierte Fokussierung erleichtert werden.

Vorläufer waren die Leitlinien, die unter Federführung der DGSPJ erstellt worden waren. Die erste S2-Leitlinie wurde 2002 erstellt, 2008 überarbeitet und von der DGKJ und der DGKCh übernommen. Sie galt bis 2012. Weiterhin gab es eine 1999 erstellte S1-Leitlinie der DGKJPP, die 2006 überarbeitet und 2010 abgelaufen war. Eine S1-Leitlinie der Gesellschaft für Pädiatrische Radiologie hat ebenfalls 2018 ihre Gültigkeit verloren.

Multiprofessioneller Ansatz im Fokus

Die Arbeit im Leitlinienbüro war von einigen Diskontinuitäten geprägt, scherzhaft wurde das Wort "Erziehungsurlaub" zum Unwort des Jahres 2016 im Leitlinienbüro erklärt. Viel dramatischer und alle mit Trauer erfüllender war die rasch progredient verlaufende Erkrankung von Ingo Franke, der am 05. 06. 2018 kurz vor der Konsentierungskonferenz verstorben ist. Er war Mitglied im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin (DGKiM) und ein unermüdlicher Verfechter für mehr Kinderschutz auch und gerade in der Medizin. Alle Beteiligten werden ihn in ehrendem Andenken bewahren, die Leitlinie ist untrennbar mit seinem Namen verbunden.

Ein besonderes Merkmal der Kinderschutzleitlinie ist zudem der multiprofessionelle Ansatz: ein Kind hat im Laufe seiner Entwicklung immer wieder mit Vertretern der unterschiedlichsten Bereiche im Kinderschutz Kontakt und ist abhängig von deren professionellem und fallorientiertem Zusammenwirken. Um dieser Tatsache und auch der praktischen Anwendbarkeit der Leitlinie Rechnung zu tragen, sind an der Erstellung der Leitlinie neben Medizinern unter anderem auch Fachkräfte aus den Bereichen Jugendhilfe und Pädagogik, sowie den Bereichen Psychologie/Psychiatrie, Sozialer Arbeit und Justiz/Strafverfolgungswesen beteiligt. Auch Betroffene/Patientinnen und Patienten werden in die Leitlinienentwicklung einbezogen. Somit sind sowohl die Form als auch der Inhalt der Kinderschutzleitlinie einzigartig.

Mit über 70 verschiedene Fachgesellschaften/Organisationen war dies die größte Leitliniengruppe, die je bei der AWMF eine Leitlinie erstellt hat. Zudem haben verschiedene Bundesministerien und Bundesbeauftragte den Prozess begleitet (Abb. 1).

Einzigartige Methode angewandt

Um dem praxisnahen und fallorientierten Anspruch der Kinderschutzleitlinie genügen zu können, wurde eine besondere und bisher in Deutschland einzigartige Methodik entwickelt. Die von den Fachgesellschaften und Organisationen benannten Personen wurden gebeten, bei einer im Leitlinienbüro entwickelten Online-Fallabfrage anonymisiert reale Kinderschutzfälle einzustellen, die durch das Leitlinienbüro kategorisiert und analysiert wurden. 229 Fachkräfte haben insgesamt 476 Kinderschutzfälle beschrieben. Nach der wissenschaftlichen Aufbereitung der geschilderten Fälle wurden auf dieser Basis exemplarische Kinderschutzfälle generiert. Diese waren Grundlage für die Entwicklung der Fragestellungen (PICO-Fragen), die wiederum der Ableitung von Schlüsselbegriffen für die Literaturrecherche dienten. Diese strukturierte Vorgehensweise richtet sich nach den Vorgaben der evidenzbasierten Medizin (EBM) und Cochrane (www.cochrane.de) und erfüllt den aktuell höchsten wissenschaftlichen Standard. Die Anzahl der gefundene Artikel in internationalen Datenbanken war 48.769! Diese mussten alle gesichtet werden, ob sie zur Beantwortung der durch die Fälle gestellten Fragen beitragen konnten. Die Ergebnisse der Literaturrecherche wurden einer Analyse unterzogen und für die Entwicklung von konkreten Handlungsempfehlungen genutzt, die durch alle Beteiligten bewertet und verabschiedet wurden. Eine Liste der Fachgesellschaften, die Fallabfrage und alle Informationen zur Kinderschutzleitlinie können auf www.kinderschutzleitlinie.de eingesehen werden.

Schwierige, aber erfolgreiche Konsenssuche

Vieles war ungewohnt und manchmal auch schwierig in der Zusammenarbeit und in der Koordinierung – nicht selten dachte zumindest die Berichterstatterin, dass wir das einfach nicht schaffen würden. Zu unterschiedlich waren manchmal die professionellen Selbstverständnisse der verschiedenen Professionen, zu ungewohnt die Sprache der anderen, zu schwierig, die entsendenden Fachgesellschaften zu ermutigen, Kompromisse mitzugehen. Aber es ist gelungen! Die Beteiligung der vielen Fachverbände aus dem psychosozialen Bereich haben dazu geführt, dass nicht nur klassische medizinische Themen wie Frakturen, Blutungen und sexuell übertragbare Krankheiten behandelt wurden, sondern auch Themen wie Beteiligung der Kinder und Jugendlichen, Formen der verbindlichen Kooperation, Maßnahmen der familienbezogenen Prävention und viele andere.

Der Prozess des Zusammenarbeitens hat viele Brücken gebaut, viele interprofessionelle Diskussionen befördert und vor allem gezeigt, dass die Profis auch haben, was wir von den Bezugspersonen der Kinder oft verlangen: die Fähigkeit, die eigenen Bedürfnisse hinter den eigenen zurückstellen zu können, und damit zu einer Verantwortungsgemeinschaft zusammenzuwachsen.

Wir freuen uns auf die baldige Veröffentlichung der Leitlinie nach Konsentierung durch alle beteiligten Vorstände der Fachgesellschaften und Verbände.

Die Leitlinie ist zur öffentlichen Konsultation seit Ende Oktober 2018 einsehbar und kann kommentiert werden.



Korrespondenzadresse
Ute Thyen und Andreas Oberle
Präsidentin und Vizepräsident der DGSPJ
Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin e.V.
Geschäftsstelle
Chausseestraße 128/129
10115 Berlin
Tel.: 0 30/4 00 05 88-6
Fax: 030/4 00 05 88-7
Internet: www.dgspj.de

Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2018; 89 (6) Seite 428-431