Warum die Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz jetzt notwendig ist, erklärt Hans Michael Straßburg - und berichtet über einen Vorschlag für eine Neuformulierung des Grundgesetzes.

Bis in die Neuzeit waren Kinder in praktisch allen Kulturen das Besitztum ihrer Eltern bzw. der Familien und ohne irgendwelche eigenen Rechte, z. B. bei Entscheidungen über ihre Ausbildung und Erziehung oder ihre Religion. Nach Einzelinitiativen, z. B. der Proklamierung des 20. Jahrhunderts zum "Jahrhundert des Kindes" durch E. Key oder der Bewegung "Save the Children" von E. Jebb in Großbritannien wurde 1924 im Genfer Völkerbund eine Children,s Charta verabschiedet, die 1959 ohne rechtliche Verpflichtung von der UNO übernommen wurde. 1946 wurde UNICEF, das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, gegründet.

Janusz Korczak (1878 – 1942) war nach dem ersten Weltkrieg der Pionier, der unermüdlich in seinen Schriften und Radiobeiträgen die konsequente Achtung der Persönlichkeit des Kindes einforderte und dies bei der Betreuung der ihm im jüdischen Waisenhaus in Warschau anvertrauten Kinder auch in die Praxis umsetzte [1]. Auf Antrag von Polen wurde 1989 die UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK) in New York verabschiedet, die 1992 zuerst "mit Vorbehalt" von Deutschland ratifiziert wurde. Bis auf die USA haben alle Mitgliedsstaaten der UN diese Konvention angenommen, womit auch die Aufnahme der Kinderrechte in die Verfassung verbunden ist [2].

Die UNICEF hat die ausführliche Version der 54 Artikel der Kinderrechts-Konvention mit ihren 3 Zusatzprotokollen in 10 Punkten zusammengefasst:

  1. Das Recht auf Gleichbehandlung und Schutz vor Diskriminierung unabhängig von Religion, Herkunft und Geschlecht;
  2. Das Recht auf einen Namen und eine Staatszugehörigkeit;
  3. Das Recht auf Gesundheit;
  4. Das Recht auf Bildung und Ausbildung;
  5. Das Recht auf Freizeit, Spiel und Erholung;
  6. Das Recht, sich zu informieren, sich mitzuteilen, gehört zu werden und sich zu versammeln;
  7. Das Recht auf eine Privatsphäre und eine gewaltfreie Erziehung im Sinne der Gleichberechtigung und des Friedens;
  8. Das Recht auf sofortige Hilfe in Katastrophen und Notlagen und auf Schutz vor Grausamkeit, Vernachlässigung, Ausnutzung und Verfolgung;
  9. Das Recht auf eine Familie, elterliche Fürsorge und ein sicheres Zuhause;
  10. Das Recht auf Betreuung bei Behinderung.

Die National Coalition, ein Netzwerk von derzeit 120 deutsche Organisationen, soll die Umsetzung der UN-KRK kontrollieren und dazu jedes Jahr einen Bericht erstellen. Zusammen mit UNICEF fordert sie seit Jahren eine Stärkung der Kinderrechte in Deutschland [2 – 5].

Nach Zustimmung des Bundesrates hat die Bundesregierung am 3. Mai 2010 beschlossen, die bei der Ratifizierung der UN-KRK abgegebene Vorbehaltserklärung zurückzunehmen. Damit gilt die UN-KRK uneingeschränkt, das heißt "bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, ganz gleich ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorgan getroffen werden, [ist …] das Wohl des Kindes vorrangig zu berücksichtigen" [4, 5].

Die nachfolgenden Ausführungen sind die persönliche Sicht des Autors, stehen aber in wesentlichen Punkten im Einklang mit den Anliegen vieler Organisationen, u. a. der DGSPJ und der DAKJ.

Die Situation der Kinder in Deutschland

Grundsätzlich ist die rechtliche und gesundheitliche Situation von Kindern und Jugendlichen in Deutschland so gut wie wahrscheinlich noch nie zuvor. Eltern haben bei der Sorge um ihre Kinder weitreichende Rechte, die sie nutzen können, damit ihre Kinder in ihrem Sinn aufwachsen. Dennoch ist die Situation der Kinder sowohl in den Erfahrungen der Praxen und Beratungsstellen als auch in offiziellen Erhebungen unbefriedigend. Aktuell hat auch der ärztliche Direktor der Dr. von Haunerschen Universitäts-Kinderklinik in München, Prof. C. Klein, auf die mangelnde Berücksichtigung der Kinderrechte im deutschen Gesundheitswesen hingewiesen [4]:

  • Seit vielen Jahren lebt jedes 7. Kind in einer Familie, die weniger als 50 % des Durchschnittseinkommens zur Verfügung hat, die demnach definitionsgemäß in Armut lebt. Unverändert entscheidet vor allem die sozioökonomische Herkunft über Gesundheit und Bildung der Kinder in Deutschland, wie dies in den PISA- und OECD-Studien wiederholt festgestellt wurde [4 – 9].
  • Deutschland gibt nur 5,3 % seiner Wirtschaftsleistung für Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen, z. B. Kindertagesstätten, Schulen und Universitäten, aus – der OECD-Durchschnitt liegt bei 6,3 %! [5, 6]
  • Krankenkassen, Sozialämter etc. gewähren nur eine "ausreichende bzw. notwendige" Behandlung von Krankheiten und Entwicklungsstörungen unter strenger Berücksichtigung der Kosten und keine "bestmögliche Behandlung". Dies gilt vor allem für Kinder, die unter das Asylbewerbergesetz fallen [4, 5, 7].
  • In vielen Kindertagesstätten werden die Mindeststandards für eine qualifizierte Betreuung weder von den Räumlichkeiten noch von der Zahl und der Ausbildung des Personals erreicht [5 – 7, 9].
  • Ausstattung und Finanzierung der stationären und der ambulanten medizinischen Versorgung der Kinder sind nicht am Kindeswohl, sondern an budgetären und administrativen Vorgaben orientiert. So hat der Deutsche Ethikrat 2016 gefordert, dass die Kinder- und Jugendmedizin komplett aus dem Fallgruppen-Vergütungssystem der Erwachsenenmedizin abgekoppelt werden sollte [4].
  • Seelische Krankheiten und soziale Probleme von Kindern werden oft nicht frühzeitig erkannt. Erst seit 2016 werden sie im Katalog der kinderärztlichen Früherkennungsuntersuchungen erwähnt, ohne dass standardisierte Erhebungsinstrumente vorgesehen sind [5].
  • Kinder und Jugendliche mit psychischen Problemen werden häufig entweder fachlich unzureichend oder gar nicht behandelt. Das liegt nicht nur an den Eltern, sondern z. B. auch an unzureichenden Präventivmaßnahmen und an zu langen Wartezeiten in Praxen und SPZs [5, 7].
  • Über alle Alltagsmaßnahmen beim Kind entscheiden primär immer die Eltern, auch wenn es oft kritikwürdige Verhaltensweisen gibt, die die Zukunft der Kinder nachhaltig negativ beeinflussen, z. B.
    • bei der Ernährung,
      • übermäßig zucker- und kalorienreiche, vitamin- und ballaststoff-arme Ernährung
      • Spezialdiäten, z. B. vegane Ernährung, ohne Substitution essenziell wichtiger Nahrungsbestandteile (Eisen, Vitamin B12, Vitamin D etc.),
      • gezuckerter Tee in der Saugflasche,
  • bei unzureichender Zahnpflege
  • oder beim Fernseh- und Internet-Konsum [7, 10, 11].
  • Über alle medizinischen Maßnahmen entscheiden die Eltern, z.B. über die Durchführung von Impfungen, von Medikamentenbehandlungen und Operationen. Hier ist es wichtig, zwischen dem informed assent (= der einfachen Zustimmung) und dem informed consent (= dem eigenständigen Einverständnis auf der Basis allgemeiner Leitlinien) zu unterschieden [12, 13].
  • Kulturspezifische Besonderheiten führen z. T. zu Verhaltensweisen, die in unserer Gesellschaft nicht toleriert werden sollten, z. B. wenn vor allem in Familien mit nichteuropäischer Herkunft Knaben von früh an bevorzugt werden oder bei in anderen Kulturen noch üblichen körperlichen und psychischen Erziehungsmaßnahmen [7, 14].
  • Die aufsuchende Familienhilfe ist primär freiwillig. Eingriffe der staatlichen Stellen bei unzureichender Fürsorge der Eltern für ihre Kinder werden immer wieder nicht ausreichend umgesetzt, was zu erheblichen Gefährdungen der Kinder führen kann. Die Zahl der Inobhutnahmen bei Kindern unter 14 Jahren ist in den vergangenen 4 Jahren auch ohne Berücksichtigung der unbegleiteten Minderjährigen auf deutlich über 10 % gestiegen [5, 7, 10].
  • Die Teilnahme am kinderärztlichen Früherkennungsprogramm wird in mehreren Bundesländern nicht verpflichtend registriert [7].
  • Bei schulischer Unter- oder Überforderung entscheiden primär die Eltern und nicht das Votum der Fachleute über die Betreuung der Kinder [7].
  • Bei Trennung der Eltern ist in vielen Fällen nicht das Kindeswohl, sondern die Durchsetzung der Interessen durch die juristischen Vertretungen entscheidend, was nicht selten von der finanziellen Situation des jeweiligen Elternteils abhängt [5, 9].
  • Bei häuslicher Gewalt behält der Täter nicht selten das Besuchs- bzw. Umgangsrecht für die Kinder [10, 11, 15].
  • Das Recht auf Kenntnis der biologischen Eltern wird den Kindern nicht konsequent gewährt, obwohl es rechtlich vorgesehen ist. Das gilt besonders auch bei Leihmutterschaft, Eizellspende und Embryonenadoption, die zunehmend häufiger werden [16].
  • In neueren Studien konnten als Erklärung für die schlechtere Langzeitprognose von Kindern aus Armutsverhältnissen auch neurobiologische Befunde, z. B. ein kleinerer Hippokampus und eine signifikant kleinere Großhirnrindenoberfläche nachgewiesen werden [17].

Diese Liste, die sicher ergänzt werden kann, will weder Eltern noch Jugendämter, nichtstaatliche Kinderschutzorganisationen, Kinderärzte und andere Institutionen pauschal kritisieren und schon gar nicht verurteilen, sondern auf die heutigen Gefährdungen und rechtlichen Probleme von Kindern in unserer Gesellschaft hinweisen. Es ist eine Tatsache, dass manche Eltern wenig Kompetenzen und sozioökonomische Ressourcen haben und nicht alle lassen sich durch Beratung und praktische Unterstützung helfen [6, 7, 10, 11].

Flüchtlingskinder

Besonders eklatant ist die Berücksichtigung von Kinderrechten bei den Flüchtlingskindern:

  • Immer wieder werden Flüchtlingsfamilien vor allem kurz nach Ankunft durch die Behörden in Deutschland getrennt.
  • Ein großes Problem ist die Variabilität bei der Altersbestimmung von Jugendlichen auf Grund biologischer Parameter. Weder eine Ganzkörper-Untersuchung einschließlich einer Genitalinspektion noch eine röntgenologische Bestimmung des Knochenalters sind geeignet, das chronologische Alter sicher festzulegen.
    • - Die medizinische Versorgung von Flüchtlingskindern ist oft unbefriedigend – anfangs können sie in den Aufnahme-Ambulanzen nur bei schwerwiegenden organischen Erkrankungen behandelt werden. Nach Zuteilung eines Berechtigungsscheins der Krankenkasse für ambulante Behandlungen melden viele Eltern ihre Kinder nicht zu den notwendigen Impfungen und Früherkennungsuntersuchungen bei den niedergelassenen Kinderärzten an, sie nehmen angebotene Termine unzureichend wahr oder bekommen keine. Bei ungesichertem Aufenthaltsrecht der Eltern, z. B. drohender Abschiebung, besteht kein Anspruch auf Impfungen, Früherkennungsuntersuchungen, Hilfsmittel und stationäre Abklärung von nicht lebensbedrohlichen Erkrankungen der Kinder.
    • - Große Defizite bestehen bei komplexen Erkrankungen und bei der Erkennung und Differenzierung von Entwicklungs- und Verhaltensstörungen, insbesondere einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Dies scheitert besonders an der unzureichenden Organisation und Finanzierung kompetenter Dolmetscher [3].

Ein in der politischen Öffentlichkeit besonders kontrovers diskutiertes Thema ist der Familiennachzug bei unbegleitet minderjährigen Flüchtlingen (UMF), der nach der Kinderrechts-Konvention ermöglicht werden soll, aber in Deutschland auch in der neuen Regierungskoalition weitgehend ausgesetzt ist. Bis zum Juni 2015 wurde dieser Bedarf als gering eingeschätzt. Mit Beginn der Flüchtlingskrise erhöhte er sich rasant und lag Ende Januar 2016 bei 60.162. Im Jahr 2015 machten aber nur insgesamt 442 Eltern von dem Nachzugsrecht zu ihren minderjährigen Kindern und Jugendlichen Gebrauch. Der "Bundesfachverband unbegleitet minderjähriger Flüchtlinge" (BumF) kritisierte 2016 die im Asylpaket II vorgesehene Aussetzung der Familienzusammenführung für subsidiär Schutzberechtigte als eine Missachtung elementarer Bedürfnisse der Minderjährigen. Er fordert, die belastenden Trennungssituationen ernst zu nehmen und die Familienzusammenführungen zügig zu ermöglichen, anstatt Flüchtlingskindern und ihren Eltern pauschal "niedere (z. B. wirtschaftliche) Beweggründe" zu unterstellen. "Kinder – egal welcher Herkunft – brauchen ihre Eltern!" [3, 5, 9].

Vorschlag für eine Neuformulierung des Grundgesetzes

Die Aufnahme der Kinderrechte in das Grundgesetz scheiterte bisher an dem Einspruch konservativer Gruppen im Bundestag und der Öffentlichkeit. Im Frühjahr 2017 hat das Land Nordrhein-Westfalen im Bundesrat den Antrag auf Grundgesetzänderung eingebracht und im Wahlprogramm der CDU wurde 2017 erstmals befürwortet, die Kinderrechte in das Grundgesetz aufzunehmen [18]. Noch ist offen, ob dieses Vorhaben Teil des Programms der neuen Bundesregierung sein wird. Gerade deshalb ist es aktuell so wichtig, dass alle befürwortenden Institutionen möglichst einheitliche Forderungen erheben.

Konkret wird vorgeschlagen, bei einer Grundgesetzänderung die Artikel 3 und 6 neu zu formulieren.

Art. 3,3

Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seines Alters, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.

Art. 6, 1,2 und 5

(1) Ehe, Familie, Eltern und Kinder stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung.

(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über das Wohl der Frühgeborenen, Neugeborenen, Säuglinge, Kinder und Jugendlichen wacht die staatliche Gemeinschaft...

(5 neu) Die staatliche Gemeinschaft achtet, schützt und fördert die Rechte und das Wohl des Kindes und trägt Sorge für kindgerechte Lebensbedingungen. Bei allem staatlichen Handeln, das Kinder betrifft, ist das Wohl des Kindes maßgeblich zu berücksichtigen. Jedes Kind hat bei staatlichen Entscheidungen, die seine Rechte betreffen, einen Anspruch auf Gehör und auf Berücksichtigung seiner Meinung entsprechend seinem Alter und seiner Reife [19 – 21].

Gegenargumente

Manche Publizisten, Juristen und Politiker halten die Einführung der Kinderrechte in das Deutsche Grundgesetz für unnötig, ja sogar für "eine Frechheit", die bestehenden allgemeinen Menschenrechte würden auch für Kinder gelten. Sie verweisen darauf, dass staatliche Institutionen vor allem in totalitären Regimen sich viel zu stark in die Erziehung der Eltern einmischen und grundlos Kinder in Obhut nehmen. Dies seien auch die Erfahrungen in der Nazi-Diktatur und in sozialisitischen Staaten. Nicht zuletzt in kirchlich-religiös geprägten Kreisen ist die Sorge vor einer Dominanz des Staates besonders groß. So würden die Rechte der Eltern untergraben und das Anspruchsdenken der Kinder erhöht. Grundsätzlich seien die Eltern immer die besten Vertreter der Rechte ihrer Kinder. Eine zusätzliche Berücksichtigung von "Kinderrechten" in den politischen und administrativen Gremien würde die Genehmigung neuer Projekte erschweren, erhöhe die Kosten und die zeitlichen und bürokratische Belastungen [4, 18].

Die Konsequenzen

Die Aufnahme von Kinderrechten im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland würde voraussichtlich akut nur wenige direkte Folgen haben, aber der Stellenwert von Kindern und Jugendlichen in vielen Lebensbereichen würde nach Ansicht der Befürworter deutlich angehoben werden. Bei vielen öffentlichen Entscheidungen müsste das Kindeswohl dann noch mehr Berücksichtigung finden, z. B.

  • bei der Zuteilung von Geldern für alle Formen von Bildung im Kindes- und Jugendalter. So gibt es in vielen Ballungszentren zu wenige und oft überteuerte Plätze in Kindertagesstätten und zu wenig qualifiziertes Personal. Das Ganztagsangebot an Schulen muss weiter ausgebaut und die Hortbetreuung verbessert werden. Weiterführende Schulen und Universitäten haben einen immer größeren Finanzierungsbedarf [5, 7, 9].
  • bei öffentlichen Bauvorhaben (z. B. Schulen oder Kindertagesstätten) müssten die Belange und Wünsche von Kindern stärker berücksichtigt werden und die Kinder direkt nach ihren Vorstellungen befragt werden [18].
  • Sozial- und Jugendhilfe müssten im Sinne der seit langem geplanten "großen Reform" der Sozialgesetzbücher VIII und XII zusammengeführt werden, z. B. bei der Beantragung von Unterstützungsmaßnahmen und bei der Erziehungsberatung von Familien mit einem behinderten Kind [7, 10].
  • Bei den Gerichten müsste das Kindeswohl konsequent Priorität haben. Scheidungskinder könnten einen Anspruch auf eigene Rechtsberatung ohne Zustimmung der Eltern haben [7, 10].
  • Die Ansprüche von Pflegekindern würden besser unterstützt werden, z. B. auch bei der Frage, ob sie zu den leiblichen Eltern zurückkehren wollen.
  • Im Straßenverkehr und beim Neubau von Wohngebieten müssten die Belange von Kindern besser berücksichtigt werden, z. B. bei der Planung von Geh- und Radwegen, bei der Geschwindigkeitsreduzierung und dem Bau von Spiel- und Sportstätten [7].
  • Die Flüchtlingspolitik müsste sich mehr auf die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen einstellen, z. B. hätten Flüchtlingskinder nicht nur den vollen Anspruch auf medizinische Versorgung, sondern auch auf einen Kindertagesstätten- und Schulplatz, bessere Wohnbedingungen oder einen Schutz vor Abschiebung [3].
  • Bei medizinischen Maßnahmen einschließlich solchen zur Kontrazeption müssten die Interessen der Kinder und Jugendlichen stärker berücksichtigt werden [3].
  • In den Schulen müsste die derzeitige Regelung des Religionsunterrichts überdacht und neu organisiert werden u. v. m. [14, 22 – 24].

Die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin, der Dachverband der kinderärztlichen Fachverbände, hat 2015 eine Petition mit über 120.000 Unterschriften in den Dt. Bundestag eingegeben, in der ein Kinderbeauftragter im Deutschen Bundestag gefordert wird. Er soll

  • unabhängig und nicht weisungsgebunden sein,
  • Gesetze und Entscheidungen der Exekutive daraufhin überprüfen, ob sie den Rechten unserer Kinder und Jugendlichen entsprechen,
  • Ansprechpartner für die Kinder und Jugendlichen, deren Eltern und für Kinderrechtsvertreter sein,
  • auf eigene Initiative hin tätig werden, wenn Kinderrechte verletzt werden [22].

Eine solche Institution könnte die Kinderrechte in Deutschland besser überwachen als die bisherigen Einrichtungen einschließlich der Kinderkommission im Bundestag, die nur einstimmige Beschlüsse fassen kann und keine Berechtigung hat, ihre Forderungen im Plenum zu präsentieren. Die deutschen Kinderärzte halten die Einsetzung eines Kinderbeauftragten im Deutschen Bundestag gerade bei einer Grundgesetzänderung für unabdingbar.

Die derzeitigen Gesetze in Bezug auf Kinder und Jugendliche sind nicht immer klar geregelt und benötigen Veränderungen im Sinne des Kindeswohls oder besser "in the child‘s best interest" [12, 13]. Flächendeckend sollten auch in Deutschland Ombudsstellen (also Schiedsstellen) für Kinder und Jugendliche eingerichtet werden, die bereits jetzt in mehreren Gemeinden und Bundesländern bestehen [25].

Ohne Zweifel benötigen solche Gesetzesänderungen höhere finanzielle Zuwendungen von der öffentlichen Hand für kinderorientierte Projekte. Langfristig werden sich diese Investitionen aber allein durch die zu erwartenden höheren Einnahmen bzw. die Einsparung von Ausgaben amortisieren, wenn Risiko-Kinder im weiteren Verlauf dem Gemeinwesen wesentlich geringere Kosten verursachen, wie es u. a. der Nobelpreisträger für Ökonomie im Jahr 2000, James Heckman, und viele nachfolgende Studien eindrucksvoll nachweisen konnten [6, 8, 14, 17]. In Anbetracht der immer älter werdenden deutschen Gesellschaft ist der gesetzliche Schutz und die Optimierung der Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen eine zwingende Notwendigkeit, wir sollten alles daran setzen, unsere Gesellschaft "enkeltauglich" zu gestalten.

Prof. H. Bode, Prof. J. Ehrich, Frau Dr. E. Jäger-Roman, Dr. C. Krüger, Frau Prof. U. Thyen und Herrn Prof. K. P. Zimmer danke ich herzlich für kon­struktive und kritische Kommentare.

Literatur:
1. Straßburg H M (2017) Zum 75. Todestag von Janusz Korczak – ein bedeutender Vorkämpfer für die Rechte der Kinder. Kinderärztl Prax 88: 125 – 126
2. www.wikipedia.Kinderrechte
3. Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin (DAKJ) (2016) Stellungnahme zur Versorgung von Asylsuchenden und Flüchtlingen. www.dakj/kommissionen/globale kindergesundheit
4. Klein C (2017) Kinderheilkunde im Spiegel der Kinderrechtskonvention. Gesundheitswesen 16. doi: 10.1055/s-0043-118782. [Epub ahead of print]
5. Krappmann L, Petry C (2016) Worauf Kinder und Jugendliche ein Recht haben: Kinderrechte, Demokratie und Schule. Ein Manifest. Bd. 2 Kinderrechte und Bildung. Wochenschauverlag Schwalbach
6. Berth F (2011) Die Verschwendung der Kindheit. Wie Deutschland seinen Wohlstand verschleudert. Beltz Verlag, Weinheim
7. Bode H, Straßburg HM, Hollmann H (Hrsg.) (2009, 2013) Sozialpädiatrie in der Praxis. Urban & Fischer-Elsevier, München
8. Katz VS, Gonzales C, Clark K (2017) Digital Inequality and Developmental Tractories of Low-income, Immigrant, and Minority Children. Pediatrics 140: 132 – 136
9. Koch J (2017) Chill mal, Mama. DER SPIEGEL 44: 109 – 116
10. Herrmann B, Dettmeyer, R, Banaschak S, Thyen U (2016) Kindesmisshandlung. Medizinische Diagnostik, Intervention und rechtliche Grundlagen. 3. Auflage. Springer Verlag, Berlin
11. Tsokos M, Guddat S (2014) Deutschland misshandelt seine Kinder. Droemer Verlag, München
12. De Lourdes Levy M, Larcher V, Kurz R (2003) Informed Consent/Assent in Children. Statement of the Ethics Working Group of the Confederation of European Specialists in Paediatrics (CESP). Eur J Pediatr 162: 629 – 633
13. Parekh SA (2007) Child consent and the law: an insight and discussion into the law relating to consent and competence. Child Care Health Dev 33: 78 – 82
14. Sen A (2007) Die Identitätsfalle – warum es keinen Krieg der Kulturen gibt. C.H. Beck Verlag, München
15. Straßburg HM (2012) Indirekte Gewalterfahrungen bei Kindern – Auswirkungen und Hilfen. Kindesmisshandlung und -vernachlässigung 15: 200 – 203
16. Straßburg H M (2017) Verantwortliche Elternschaft. Interdisziplinäre Perspektiven auf Gameten- und Embryonenspende. Kinderärztl Prax 88: 54 – 55
17. Luby JL, Barch D, Whalen D et al. (2017) Association Between Early Life Adversity and Risk for Poor Emotional and Physical Health in Adolescence: A Putative Mechanistic Neurodevelopmental Pathway. JAMA Pediatr 10.1001/jamapediatrics.2017.3009 (Epub ahead of print)
18. Amann, M, Müller A-K (2017) Plötzlich Mutti. DER SPIEGEL 29: 46 – 47
19. Goldhagen J, Mercer R, Ehrich J et al. (2017) Establishing a child rights, health equity, and social justice-based practice of pediatrics. Eur Paediatr Association Pages (EPA/UNEPSA) 160: 1098 – 1099e
20. http://philosophie-indebate.de/2149/pro-und-contra-sollen-kinderrechte-in-die-verfassung-aufgenommen-werden/

Weitere Literatur beim Verfasser.


Korrespondenzadresse
Prof. i. R. Dr. Hans Michael Straßburg
Emil von Behringweg 8
97218 Gerbrunn

Interessenkonflikt: Es bestehen keine kommerziellen Interessenkonflikte.


Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2018; 89 (2) Seite 134-140