"Ist mein Kind wirklich zu dick?" Eltern unterschätzen häufig den Gewichtsstatus ihres bereits übergewichtigen oder adipösen Kindes. Wann genau ist ein Kind adipös? Und welche praktischen Empfehlungen kann man Kindern und Eltern geben? Antworten hat Professor Mathilde Kersting, Leiterin des Forschungsdepartments Kinderernährung (FKE) der Universitäts-Kinderklinik Bochum.

Übermäßiges Körpergewicht ist heute die häufigste ernährungsmitbedingte chronische Gesundheitsstörung bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Laut dem aktuellen Kinder- und Jugendgesundheitssurvey KiGGS (Welle 2) sind 15,4 % der Kinder und Jugendlichen in Deutschland übergewichtig, 5,9 % sind adipös. In den letzten 10 Jahren haben sich die Prävalenzen damit auf hohem Niveau stabilisiert, der soziale Gradient hat sich verstärkt: Inzwischen gibt es etwa einen 4fach höheren Anteil an Adipositas bei einem niedrigen Sozialstatus im Vergleich zu einem hohen Sozialstatus.

Der Krankheitswert der Adipositas im Kindes- und Jugendalter ergibt sich vor allem aus der höheren Komorbidität, aber auch aus der psychosozialen Beeinträchtigung im Vergleich zu Normalgewichtigen. Da die Behandlung der Adipositas bei Kindern und Jugendlichen schwierig und langfristig meist erfolglos ist, kommt der Prävention eine besondere Bedeutung zu.

Wann gilt ein Kind als adipös?

Adipositas ist charakterisiert durch einen pathologisch erhöhten Fettanteil des Körpers gemessen an der Gesamtkörpermasse. Da es für das Kindes- und Jugendalter mangels geeigneter Daten keine festlegbaren Grenzwerte für die Gesundheitsgefährdung durch Adipositas gibt, erfolgt die Definition anhand populationsbasierter Perzentilen für den Body-Mass-Index (BMI). Dieser kann auf einfache Weise in der Kinderarztpraxis ermittelt werden: BMI =
Körpergewicht in kg : Körpergröße in m².

In ihrer aktuellen S3-Leitlinie empfiehlt die Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter (AGA) gemäß der allgemeinen Definition auffälliger Werte bei biologischen Parametern folgende Grenzwerte (BMI-Perzentile):

Übergewicht: BMI-P > 90 – 97
Adipositas: BMI-P > 97 – 99,5
Extreme Adipositas: BMI-P > 99,5

Detaillierte Tabellen mit BMI-Werten sowie Perzentilkurven finden sich unter www.a-g-a.de. Eltern unterschätzen häufig den Gewichtsstatus ihres bereits übergewichtigen/adipösen Kindes.

Für adipöse Kinder und Jugendliche werden strukturierte, von der AGA zertifizierte ambulante und stationäre multimodal ausgerichtete Schulungsprogramme angeboten (www.a-g-a.de). Die Indikationsstellung erfolgt durch den Kinder- und Jugendarzt, der auch in die Nachbetreuung eingebunden sein sollte.

Gibt es "adipogene" Ernährungsgewohnheiten?

Das ist wissenschaftlich schwer nachzuweisen, denn die Energiebilanz wird nicht nur durch die Energieaufnahme (Ernährung), sondern auch die Energieabgabe (körperliche Aktivität) beeinflusst. Außerdem sind die Ernährungsgewohnheiten komplex und in ihren Details in Studien unter Praxisbedingungen nicht ausreichend valide zu erfassen. Physiologisch plausibel ist das aus der Verhaltensforschung stammende Konzept der Energiedichte (kcal/g Nahrung). Es geht über die Betrachtung einzelner Nährstoffe hinaus und nimmt das komplexe Zusammenspiel von kognitiven, sensorischen, gastrointestinal-hormonellen und neuronalen Einflüssen beim Nahrungsverzehr in den Blick.

Praktisch ausgedrückt löst voluminöse Nahrung über die Magenfüllung und gastrointestinale Mechano- und Chemorezeptoren eher ein Sättigungsgefühl aus als kompakte Nahrung. Bei einer energiedichten Kost (geringes Volumen, geringe Magenfüllung) ist die Gefahr einer überhöhten Energiezufuhr also höher als bei einer voluminöseren Kost (niedrige Energiedichte, stärkere Magenfüllung). Entscheidende Stellschrauben für die Energiedichte sind der Fettgehalt (9 kcal/g vs 4 kcal/g bei Protein und Kohlenhydraten) und der Wassergehalt (0 kcal/g). In Getränken erhöht Zucker die Energiedichte (100 ml Limonade bzw. Fruchtsaft enthalten 10 g Zucker, 50 kcal)!

Die aktuelle Studienlage legt eine Assoziation zwischen einer hohen Energiedichte der Kost (wenig Gemüse/Obst, viel fettreiche, prozessierte Fertigprodukte) und auch einem hohen Konsum zuckergesüßter Getränke mit erhöhten Adipositasrisiken bei Kindern und Jugendlichen nahe.

In Testsituationen wurde darüber hinaus gezeigt, dass Kinder von großen Portionen mehr essen und die erhöhte Energiezufuhr in der Regel kurzfristig nicht durch einen Minderverzehr anderer Lebensmittel ausgleichen. Ein Zusammenhang von Übergewicht/Adipositas mit dem Verzehr von Fastfood (hohe Energiedichte, große Portionen) konnte bisher allerdings nicht nachgewiesen werden. Bei Jugendlichen fanden sich sogar inverse Zusammenhänge, was darauf hinweist, dass Ernährungsgewohnheiten gerade im Kontext der Adipositas nicht isoliert vom sonstigen Lebensstil bewertet werden sollten.

Welche Ernährungsempfehlungen kann man Kindern und Eltern mitgeben?

Trotz quantitativ und qualitativ verbesserter Studienlage in den letzten Jahren bleiben Ernährungsempfehlungen zur Prävention und Therapie der Adipositas bei Kindern und Jugendlichen im Wesentlichen auf dem Niveau einer Expertenempfehlung, kombiniert mit Pragmatismus. Als Orientierung kann das Präventionskonzept der Optimierten Mischkost für Kinder und Jugendliche dienen, dessen Kernbotschaften in 3 einfache Regeln für die Lebensmittelauswahl zusammengefasst werden (Abb. 1). Diese lassen sich in der Beratung und Adipositasschulung anhand der Ampelfarben didaktisch gut vermitteln.

Als inhaltliche Ergänzung eignen sich Empfehlungen der European Society for Pediatric Gastroenterology, Hepatology and Nutrition (ESPGHAN) zur Adipositasprävention. Sie plädieren für:
  • Wasser als Regelgetränk,
  • mindestens 4 Mahlzeiten pro Tag einschließlich eines Frühstücks und regelmäßiger Familienmahlzeiten,
  • Verzicht auf häufigen Fastfood-Verzehr und
  • Beachtung altersgemäßer Portionsgrößen (siehe hierzu [6]).

Die Pädiatrie wird zur Beteiligung an der Ernährungs- und Gesundheitserziehung bei Kindern und Jugendlichen aufgerufen.


Weiterführende Literatur
1. Evidenzbasierte (S3-)Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter (AGA, AWMF-Nr. 050-002) und der beteiligten medizinischen-wissenschaftlichen Fachgesellschaften, Berufsverbände und weiterer Organisationen. Therapie und Prävention der Adipositas im Kindes- und Jugendalter, Version Mai 2019
2. Schienkiewitz A, Brettschneider AK, Damerow S, Schaffath Rosario A (2018) Übergewicht und Adipositas im Kindes- und Jugendalter in Deutschland – Querschnittergebnisse aus KiGGS Welle 2 und Trends. Journal of Health Monitoring 3 (1) DOI 10.17886/RKI-GBE-2018-005.2
3. Rouhani MH, Haghighatdoost F, Surkan PJ, Azadbakht L (2016) Associations between dietary energy density and obesity: A systematic review and meta-analysis of observational studies. Nutrition 32: 1037 – 1047
4. Keller A, Bucher Della Torre S (2015) Sugar sweetened beverages and obesity among children and adolescents: a review of systematic literature reviews. Childhood Obesity11: 338 – 346
5. Braithwaite I, Stewart AW, Hancox RH, Beasley R, Murphy R et al. (2014). Fast-food consumption and body mass index in children and adolescents: an international cross-sectional study. BMJ Open 4:e005813. doi:10.1136/bmjopen-2014-005813
6. Kersting M, Kalhoff H, Lücke T (2017) Von Nährstoffen zu Lebensmitteln und Mahlzeiten: Das Konzept der Optimierten Mischkost für Kinder und Jugendliche in Deutschland. Aktuel Ernahrungsmed 42: 304 – 315
7. ESPGH AN Committee on Nutrition (2011) Role of dietary factors and food habits in the development of childhood obesity. A commentary by the ESPGHAN Committee on Nutrition JPGN 52: 662 – 669


Korrespondenzadresse
Prof. Dr. Mathilde Kersting

Forschungsdepartment Kinderernährung (FKE)
Universitäts-Kinderklinik Bochum
Alexandrinenstraße 5
44791 Bochum

Interessenkonflikt: Die Autorin gibt an, dass kein Interessenkonflikt im Zusammenhang mit diesem Beitrag besteht.


Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2019; 90 (5) Seite 360-363