Die Bedrohung durch das Corona-Virus selbst ist für Kinder eher mäßig - irgendwo zwischen Varizellen und Hib, schätzt Prof. Rüdiger von Kries. Eine ungleich größere Belastung der Kinder ergibt sich durch COVID-19-Containment-Maßnahmen. Beim Thema Impfen sollte Solidarität keine Einbahnstraße sein, appelliert der Pädiater.

Jede Erkrankung ist eine Belastung. Auch Kinder können an COVID-19 erkranken – einige sogar schwer. Die Daten nicht nur aus Deutschland machen aber deutlich, dass die Bedrohung durch die Erkrankung selbst eher mäßig ist – irgendwo vielleicht zwischen der durch Varizellen und Hib. Gegen diese Erreger gibt es glücklicherweise schon Impfstoffe und natürlich, auch ein COVID-19-Kinderimpfstoff ist wünschenswert.

Eine ungleich größere Belastung der Kinder ergibt sich durch COVID-19-Containment-Maßnahmen: Einschränkungen sozialer Kontakte nicht nur in Krippe, Kindergarten und Schule. Dies wiegt besonders schwer für sozial nicht privilegierte Kinder in prekären Familien- und Wohnverhältnissen. Bildungs- und Teilhabe- Chancen werden verpasst – zum Teil unwiederbringlich. Die jetzt schon überlasteten Therapeuten und Jugendhilfe-Organisationen werden noch mehr zu tun bekommen. Daran, dass vielleicht einige Kinder aus Migrationsfamilien in ihrer Verzweiflung Hilfe bei Glaubensfanatikern suchen werden, deren Opfer und dann Täter werden könnten, mag man gar nicht denken.

Weder die Kinder noch ihre Eltern wurden gefragt, ob sie diese Containment-Maßnahmen (Eingrenzung durch Regelungen im Lebensumfeld) wollen. Sie hatten und haben auch keinen Grund dazu. Nicht die Kinder müssen vorrangig vor Corona geschützt werden, zumindest nicht so. Geschützt werden müssen Risikogruppen – im Wesentlichen die ca. 30 Millionen Senioren. Die Kinder und ihre Eltern wurden zur Solidarität verpflichtet. Die Diskussion, ob dies unumgänglich war, ist derzeit müßig. Wenn, hätte sie um Ostern geführt werden müssen. Dass sie nicht geführt wurde, zeigen die zunehmenden Proteste der (VER!)-QUER-Denker, deren eigentliche Ziele aber vielfach mit z. B. rassistischen und anderen Inhalten behaftet sind.

Die gute Nachricht im November 2020 war: Ein erster Impfstoff steht wahrscheinlich vor der Zulassung und der scheint ziemlich effektiv Erkrankungen zu verhindern. Bei 22.000 Geimpften gab es keine als relevant eingeschätzten Nebenwirkungen. Zugelassen würde der Impfstoff jedoch nur für Erwachsene. Können dadurch die Belastungen für Kinder in absehbarer Zeit reduziert werden?

Im Prinzip ja. Voraussetzung ist, dass alle Senioren, das Personal im Gesundheitswesen und die wenigen Patienten mit relevant erhöhtem Risiko (> 1,5) unter 60 Jahren z. B. bis zu den Osterferien geimpft sind. Dann könnten wahrscheinlich die verantwortlichen Politiker die Einschränkungen als erstes für Kinder ausklingen lassen. Die Hauptargumente für die Einschränkungen – Schutz der Risikogruppen und Vermeidung einer Überlastung des Medizinsystems – hätten an Gewicht verloren. Der Weg dahin ist nicht einfach. Notwendig ist eine kluge Planung der Impfstrategie durch Politik und Behörden, eine gute und verständliche, aber auch einheitliche Aufklärung der Bevölkerung und die Etablierung geeigneter Strukturen zur Abgrenzung etwaiger Impfkomplikationen von zufälligem Zusammentreffen von "unerwünschtem Ereignis" und Impfung.

Nicht zuletzt müssten die Senioren die Impfung zügig annehmen. Der Gewinn für sie liegt auf der Hand: Einem Risiko für schweren Verlauf oder Tod über 1 % stünde eine geringe Restunsicherheit bezüglich relevanter Impfkomplikationen von – nach Datenlage vom 09. 11. 20 – unter 1/1.000 gegenüber. Impfängste existieren, obwohl sie selten gut begründet sind. Sehr real sind aber die Belastungen der Kinder und Eltern durch die COVID-19-Containment-Strategie. Senioren sollten sich unbedingt impfen lassen, wenn nicht für sich, dann für ihre Kinder und Enkel. Solidarität ist keine Einbahnstraße.

Das Licht am Ende des Tunnels wird realistisch, wenn alle mitspielen.


Prof. Dr. med. Rüdiger von Kries, München



Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2021; 92 (1) Seite 3