Jungs haben häufiger Entwicklungsstörungen als Mädchen, und zwar von Anfang an. Das hat Konsequenzen. Kann evtl. eine stärkere Ausrichtung der schulischen Lebenswelten auf Jungen helfen?

Entwicklungsstörungen treten bei Jungen signifikant häufiger als bei Mädchen auf. Dies trifft insbesondere für umschriebene Entwicklungsstörungen der Sprache und der Motorik sowie für Verhaltensauffälligkeiten und schulische Fertigkeiten zu. Deshalb sehen viele Pädiater heute "das männliche Geschlecht als Entwicklungsrisiko" an, erklärte Dr. Stephan Waltz, Tagungspräsident der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin (DGSPJ) beim Kongress für Kinder- und Jugendmedizin in Köln. Jungen lernten nicht nur später sprechen als Mädchen, sondern zeigten auch häufiger Sprachentwicklungsstörungen. Die Legasthenie als häufigste Form schulischer Entwicklungsstörungen komme beim männlichen Geschlecht signifikant häufiger vor. Und schließlich seien zwei Drittel aller Kinder mit einer motorischen Koordinierungsstörung Jungen, erläutere Waltz in Köln.

Diese Trends untermauerte Dr. Robert Schlack vom Robert Koch-Institut in Berlin mit konkreten Zahlen aus dem Datensatz des Kinder- und Jugend-Gesundheits-Survey (KiGGS Welle 1). So zeigen insgesamt 20,2 % aller Kinder und Jugendlichen bis zum Alter von 17 Jahren psychische Auffälligkeiten. Bei den Jungs liegt der Anteil mit 23,4 % aber deutlich höher als bei den Mädchen (16,9 %). Gleiches treffe auf die Verhaltensprobleme und die Hyperaktivität zu. Während in der KiGGS-Studie bei insgesamt 5 % der Kinder- und Jugendlichen ADHS festgestellt worden ist, lag der Anteil bei den Jungen mit 8 % deutlich höher als bei den Mädchen (1,7 %). Allerdings seien bei Mädchen mit ADHS die "Effektstärken" ausgeprägter.

Überraschend hoch sei der Anteil der Kinder und Jugendlichen, die in den zurückliegenden 12 Monaten Gewalterfahrungen gemacht hätten. Dies sei bei jedem 4. Kind der Fall gewesen, wobei auch hier Jungen als Täter und auch als Opfer deutlich häufiger betroffen seien als Mädchen. Das weibliche Geschlecht sei lediglich bei den internalisierenden Störungen grundsätzlich stärker betroffen und – mit einem Anteil von 29 % – auch bei den Essstörungen (Jungen: 15,4 %).

Die aber insgesamt eindeutig ausgeprägtere "Jungenwendigkeit der Entwicklungsstörungen" ist laut Waltz auch maßgeblich dafür verantwortlich, dass Jungen weitaus schlechtere Bildungsabschlüsse als Mädchen erzielen. Nach Darstellung des Kölner Sozialpädiaters gehören jeweils zwei Drittel der Kinder auf Förderschulen und zwei Drittel der Schulabbrecher dem männlichen Geschlecht an. Auch die Abiturquote liege inzwischen bei den Mädchen deutlich höher. Robert Schlack riet in Köln daher dazu, die eher auf Mädchen ausgerichteten schulischen Lebenswelten stärker auf die Bedürfnisse von Jungen – etwa durch mehr Sportunterricht – auszurichten.



Autor
Raimund Schmid


Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2017; 88 (6) Seite 363