Tägliche Herausforderungen eines Kinder- und Jugendarztes im Umgang mit "seinen" Patienten und den Eltern. Claudia Oberle liefert Antworten auf zwei immer wiederkehrende Fragen.

Gegenstand der Bindungstheorie (BT) ist die Qualität der Eltern-Kind-Beziehung, die damit verbundenen Gefühle und Verhaltensweisen aller Beteiligten und deren Auswirkungen auf das Verhalten des Kindes in sozialen Beziehungen. Instabile Bindungsmuster können Verhaltensauffälligkeiten auslösen, die immer häufiger bei Pädiatern und Therapeuten auflaufen. Worauf sollte der Kinder- und Jugendarzt hierbei besonders achten?

Als Pioniere der BT gelten der britische Kinder- und Jugendpsychiater John Bowlby (1907 – 1990) [1] und die amerikanisch-kanadische Psychologin Mary Ainsworth (1913 – 1990) [2]. John Bowlby: "Bindung ist das gefühlstragende Band, das eine Person zu einer anderen spezifischen Person anknüpft und das sie über Raum und Zeit miteinander verbindet."

Gemessen an der Breite und Anzahl der auf ihr basierenden Publikationen und durch sie entfachten wissenschaftstheoretischen und -methodischen Diskussionen und Kontroversen kann die Bindungstheorie als eine der einflussreichsten Theorien zur Entwicklung der Persönlichkeit im menschlichen Lebenslauf angesehen werden.

Als ein allgemeines Fazit aus der Bindungsforschung lässt sich festhalten, dass eine sichere Bindung einen protektiven Faktor gegenüber der Entwicklung von Verhaltensauffälligkeiten und -problemen darstellt. Auf der anderen Seite sprechen einige Befunde für überzufällige Zusammenhänge zwischen unsicheren Bindungsmustern und späteren Verhaltensauffälligkeiten [3].

Zwei immer wiederkehrende Fragen

Für den Umgang mit "unseren" Familien als Kinder- und Jugendarzt kann die Bindungstheorie insbesondere auf zwei immer wiederkehrende Fragen eine Antwort geben:

  1. Wie können wir die Eltern unterstützen, damit sie ihrem Nachwuchs einen kindgerechten und – auf das jeweilige Alter bezogen – angemessenen Rahmen geben können?
  2. Wie können wir die Compliance der Eltern bzw. Jugendliche bei der Umsetzung unserer Empfehlungen unterstützen?

Zu Frage 1

Für die Beschäftigung mit Frage 1 bietet sich aus bindungstheoretischer Perspektive das Konzept der elterlichen Feinfühligkeit von Mary Ainsworth [4] an:

Definiert wird dieses Konstrukt als Fähigkeit,
  • die (Verhaltens-)Äußerungen des Kindes richtig zu interpretieren (z. B. die Blickabwendung eines Säuglings nach einem Zwiegespräch auf dem Wickeltisch nicht als Langeweile oder Desinteresse gegenüber der Bezugsperson, sondern als Möglichkeit der Selbstregulation und -beruhigung; z. B. den Trotzanfall eines 2-Jährigen nicht als Aggression/Argwohn/Antipathie gegenüber der Bezugsperson zu verstehen, sondern als alterstypischen Umgang mit Frustrationen).
  • prompt zu reagieren (je jünger ein Kind ist, umso prompter sollte reagiert werden), und
  • angemessen (in Bezug auf den Entwicklungsstand und die aktuellen Bedürfnisse des Kindes [Anm. der Verf.]) zu reagieren.

Feinfühliges Verhalten zählt zu den intuitiven elterlichen Kompetenzen und kann in der konkreten Interaktion mit dem Kind überlagert oder beeinträchtigt sein, insbesondere von der aktuellen physischen u./o. psychischen Verfassung der Mutter oder des Vaters. Andererseits kann feinfühliges Verhalten aber auch (wieder-)erlernt und trainiert werden.

Zur Unterstützung der elterlichen Feinfühligkeit sind im Rahmen unserer praktischen Arbeit folgende Möglichkeiten denkbar [5, 6]:
  1. Gezielte Informationsvermittlung für die Eltern im Hinblick auf die kindlichen Bedürfnisse insbesondere auch bzgl. Nähe, Distanz und Verlässlichkeit, angepasst an das jeweilige Alter und den Entwicklungsstand des Kindes ("was braucht mein Kind, was ist normal in diesem Alter?" Eine gute Grundlage könnten beispielsweise die entsprechenden Ausführungen im neuen U-Heft sein).
  2. Verringerung möglicher Unsicherheiten der Eltern (z. B. aufgrund der für sie neuen Situation als Eltern, oder aber auch aufgrund einer bereits diagnostizierten Erkrankung/Behinderung ihres Kindes) im Umgang mit ihrem Kind durch
  3. Information/den Austausch über die kindlichen Signale , v. a. für Wachheit/Ansprechbarkeit im Unterschied zu Müdigkeit/Überreizung (z. B. "Wie zeigt mir mein Kind, wann es aufnahmebereit ist und wann eher nicht").
  4. Gezielte Aufklärung über die (schon) vorhandenen Kompetenzen des Kindes, welche bereits für ein "Zwiegespräch" genutzt werden können.
  5. Vermeidung möglicher Irritationsquellen v. a. für Säuglinge/Kleinkinder, z. B. durch Smartphone-Konsum eines Elternteils parallel zur Eltern-Kind-Interaktion (z. B. dadurch, dass die Verhaltensäußerungen von Mutter oder Vater beim Telefonieren oder Nachrichtenschreiben vom Kind nicht als kongruent zum eigenen Verhalten wahrgenommen werden können).
  6. Klärung der individuellen Ressourcen psychisch kranker oder anderweitig beeinträchtigter Eltern und der notwendigen Unterstützung, um diese gezielt/punktuell einsetzen zu können (beispielsweise über gemeinsames, ggf. therapeutisch angeleitetes Spielen).

Zu Frage 2

Hierzu sind folgende Ansatzpunkte denkbar:

Aus der Perspektive des Arztes/ der Ärztin

Ebenso, wie elterliche Feinfühligkeit für die Qualität der Beziehung zu ihrem Kind zentral ist, haben wir als Kinder- und Jugendärzte durch unser Auftreten/Verhalten einen maßgeblichen Einfluss darauf, ob unsere Patienten-(Eltern) in schwierigen Situationen zu uns Vertrauen fassen und gut kooperieren können. Aus bindungstheoretischer Perspektive sind das wiederum

  • Feinfühligkeit und Empathie ("Ich sehe, wie schlecht es Ihnen geht und kann nachempfinden, wie Sie sich jetzt fühlen"),
  • Verlässlichkeit ("Ich unterstütze Sie dabei, dass Sie/Ihr Kind alle notwendigen Therapien bekommen/bekommt" oder "Sie können sich gerne an mich wenden, wenn etwas schwierig/unklar ist").

Aus der Perspektive der Patienten-(Eltern)

Prämisse: Die Feststellung einer körperlichen Erkrankung/Beeinträchtigung (der eigenen, des Kindes) führt zunächst zu einer Verunsicherung ("Wie geht es nun weiter?", "Werde ich wieder gesund?/Wird mein Kind wieder gesund?") und einer Aktivierung des Bindungssystems eines Menschen.

Die Eltern greifen dabei auf emotionale und kognitive Bewältigungsstrategien zurück, die den eigenen Bindungserfahrungen entsprechen. Davon wiederum abhängig können bestimmte Verhaltensweisen/Äußerungen des Gegenübers eher angenommen werden, andere Formen der Kommunikation weniger.

So konnte, als Beispiel aus dem Erwachsenenbereich, gezeigt werden, dass Brustkrebspatientinnen mit einer unsicher-vermeidenden Bindungsrepräsentation ("im Ernstfall kann man sich nur auf sich selbst verlassen") zur Beruhigung und Unterstützung ihrer Compliance eher Sachinformationen und praktische Unterstützung benötigten. Dagegen profitierten sicher gebundene Patienten eher von emotionaler Unterstützung durch den Partner ("Ich geh mit dir durch Dick und Dünn", "Du schaffst das und ich unterstütze dich dabei") [7].

Im praktischen Alltag als Kinder- und Jugendarzt/-ärztin ist es schwierig, von jedem Gesprächsteilnehmer die individuellen Bindungserfahrungen (z. B. über das Adult Attachment Interview [8]) herauszufinden. Es lohnt sich aber spätestens dann – ggf. auch unter Einbeziehung von Kooperationspartnern – darüber nachzudenken, wenn man als Behandler feststellt, dass die bereits mehrmals und mit viel Überzeugungsanstrengung gegebenen Anregungen/Empfehlungen nicht angenommen bzw. umgesetzt werden konnten.

Ganz allgemein gilt, dass, abgesehen von der Berücksichtigung der psychosozialen und kulturellen Rahmenbedingungen der jeweiligen Familien sowie grundlegender Regeln der Kommunikation [z. B. 9] die zusätzliche Berücksichtigung der Bindungserfahrungen des jeweiligen Interaktionspartners einen sensibleren und differenzierteren Umgang mit Informationen und Empfehlungen/Behandlungsvorschlägen ermöglicht – und somit zur Optimierung der jeweiligen Beziehung und damit zur Verbesserung der Compliance des Gegenübers beitragen kann.


Literatur:
1. Bowlby J (2004) Bindung: Historische Wurzeln, theoretische Konzepte und klinische Relevanz. In: Spangler G, Zimmermann P (Hrsg.): Die Bindungstheorie. Grundlagen, Forschung und Anwendung. (4. Aufl.). Klett-Cotta, Stuttgart, S. 17 – 26
2. Ainsthworth MDS, Wittig BA (1969) Attachment and the exploratory behavior of one-year-olds in a strange situation. In: Foss BM (Hrsg.) Determinants of Infant Behavior Bd. 4. Methuen, London, S. 113 – 136
3. Brisch KH (1999) Bindungsstörungen (3. Aufl.). Klett-Cotta, Stuttgart
4. Ainsworth MDS, Wittig BA (1969) Attachment and the exploratory behavior of one-year-olds in a strange situation. In: Foss BM (Hrsg.) Determinants of Infant Behavior Bd. 4. Methuen, London, S. 113 – 136
5. Brisch KH (2010) SAFE. Sichere Ausbildung für Eltern. Klett-Cotta, Stuttgart
6. Ziegenhain U et al. (2008) Die Chance der ersten Monate. Feinfühlige Eltern – Gesunde Kinder. Schirmer Medien GmbH & CoKG, Ulm
7. Pietromonaco PR, Uchino B, Dunkel Schetter C (2013) Close Relationship Processes and Health: Implications of Attachment Theory for Health and Desease. Health Psychol 32: 499 – 513
8. Main M, Hesse E, Goldwyn R (2008) Studying differenzes in language usage in recounting attachment history. An introduction to the AAI. In: Steele H, Steele M (Hrsg.) Clinical applications of the adult attachment interview, Guilford Publications, S. 31 – 68
9. Schulz von Thun F (2010) Miteinander reden 1 – 3. Rowohlt, Reinbek


Korrespondenzadresse
Dr. Claudia Oberle
Dipl. Psychologin
SPZ am Olgahospital Klinikum Stuttgart
Eltern-Säuglings-/Kleinkind-Psychotherapeutin

Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2018; 89 (2) Seite 146-150