Sein energisches Eintreten für die Rechte der Kinder darf auch heute nicht nicht in Vergessenheit geraten. Hans Michael Straßbourg erinnert an den Kinderarzt und Erzieher.

Janusz Korczak – 22. 07. 1878 (oder 1879) bis 05. 08. 1942

Am 05. 08. 2017 jährte sich zum 75. Mal der Todestag des polnisch-jüdischen Kinderarztes und Erziehers Janusz Korczak, der zusammen mit den ihm anvertrauten Kindern von den Nationalsozialisten im Vernichtungslager Treblinka bei Warschau ermordet wurde. Doch nicht nur deswegen, sondern auch wegen seines fortwährenden energischen Eintretens für die Rechte der Kinder und seine eindringlichen Schriften zu ihrem besseren Verständnis und zur ständigen Mahnung an alle Erwachsenen darf die Erinnerung an diesen bedeutenden Anwalt der Kinder gerade auch heute nicht in Vergessenheit geraten.

In seinem in den Schützengräben des ersten Weltkriegs geschriebenen "Leitfaden, wie Eltern und Erzieher lernen können, ihre Kinder zu entdecken", der als Buch in Deutschland mit dem Titel "Wie man ein Kind lieben soll" erschien, formulierte er viele Grundsätze, die jeder, der sich mit Kindern beschäftigt, immer wieder verinnerlichen sollte. So sollten wir Erwachsenen

  • Achtung vor der Unwissenheit des Kindes,
  • Achtung vor der Wissbegier des Kindes,
  • Achtung vor den Misserfolgen und den Tränen des Kindes und
  • Achtung vor dem Eigentum des Kindes haben.

Korczak war kein akademischer Pädagoge, der einen Lehrplan aufstellte und normierte Methoden einsetzte. Immer wieder forderte er die Erwachsenen dazu auf, Kinder zu beobachten und zu versuchen, sie zu verstehen. Der Erzieher sollte lernen, sich überflüssig zu machen und den Kindern die Welt nicht durch "kluge Sprüche" und disziplinarische Maßnahmen zu erklären. Viel wichtiger seien sein glaubwürdiges Vorbild und seine Fähigkeit, mit Erzählungen sowohl aus dem praktischen Leben als auch aus der Märchenwelt das Herz der Kinder zu finden.

Die Quintessenz seiner Einstellung formulierte er in einer für viele Menschen irritierenden Magna Charta Libertatis – seinem Grundgesetz für das Kind:

  • Es hat das Recht auf seinen Tod(!),
  • es hat das Recht auf seinen heutigen Tag und
  • es hat das Recht, so zu sein, wie es ist.

Besonders der erste Satz erschreckt und kann nur aus dem historischen Kontext verstanden werden. Er ist ein zugespitzter Einwand gegenüber Erziehungseinstellungen, die damals wie heute die Entwicklung der Kinder beeinträchtigen. Außerdem war damals bei Waisenkindern die Sterblichkeit sehr hoch, ganz besonders bei armen jüdischen Kindern in Polen. Außer gegen Pocken gab es noch keine Impfungen, schlechte hygienische Verhältnisse, mangelhafte künstliche Säuglingsnahrung, kaum wirksame Medikamente, insbesondere keine Antibiotika und immer wieder grassierende Infektionskrankheiten.

Er wandte sich aber auch gegen die ständige Beaufsichtigung von Kindern, gegen eine "Übermutterung", die das Kind an seiner Entfaltung hindert. Er war davon überzeugt, dass sich Kinder weder kurzfristig noch durch Druck ändern lassen. Janusz Korczak wollte die gleichen Rechte für alle Kinder.

Kinderrechte-Konvention gilt hierzulande erst seit 2010

Nach dem Ende des 2. Weltkriegs und in Kenntnis des Völkermords vor allem an den Juden haben die Vereinten Nationen 1948 die allgemeinen Menschenrechte verabschiedet, die auch in das deutsche Grundgesetz übernommen wurden. 1989 einigte man sich nach langer Vorbereitung auf die UN-Kinderrechts-Konvention, die am 05. 04. 1992 in Deutschland "mit Vorbehalt" und erst seit dem 15. 07. 2010 definitiv in Kraft trat. Heute ist sie von fast allen Ländern dieser Erde ratifiziert, nur die USA haben bisher ihre Unterschrift verweigert. Dort befürchtet man nach wie vor durch eine konsequente Umsetzung der Konvention eine Schwächung der Elternrechte.

Die National Coalition, ein Zusammenschluss von derzeit 110 Organisationen und Initiativen in Deutschland, darunter auch die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin (DAKJ), hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Kinderrechte besser bekannt zu machen und ihre Umsetzung voranzubringen. Seit vielen Jahren wird von ihr und anderen Organisationen (z. B. dem Deutschen Kinderhilfswerk, dem Deutschen Kinderschutzbund, UNICEF Deutschland, der Deutschen Liga für das Kind und dem Kindernetzwerk) immer wieder die Aufnahme der Kinderrechte in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland gefordert, wie das in vielen anderen Ländern bereits geschehen ist.

Bisher sind Kinder im Grundgesetz nur "Regelungsgegenstand", z. B. heißt es in § 6, Absatz 2: "Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft".

Kinder können ihre Rechte nicht einfordern

Kinder können – anders als alle anderen Grundrechtsträger – ihre Rechte an vielen Stellen nicht einfordern. Die Aufnahme der Kinderrechte in das Grundgesetz würde viel stärker als bisher die Verantwortung von Eltern und Staat verdeutlichen, sich bei der Wahrnehmung ihrer Rechte und Pflichten am Vorrang des Kindeswohl zu orientieren. Dafür gibt es viele Beispiele:

  • Behörden müssen bei Planungen von neuen Wohngebieten oder im Straßenbau mehr Rücksicht auf Kinder nehmen.
  • Die Träger von Kindertagesstätten müssen Mindeststandards der Betreuungsqualität im personellen, räumlichen und organisatorischen Bereich gewährleisten.
  • Bei der Entscheidung für eine bestimmte Schule oder die Ausgestaltung des Lehrplans müssen die Belange der Kinder mehr beachtet werden.
  • Kranke Kinder haben nicht nur ein Anrecht auf eine "ausreichende und notwendige", sondern im Interesse des Kindeswohls auf eine "bestmögliche" Behandlung bei Krankheiten und Entwicklungsstörungen.
  • Ab dem 12. Lebensjahr sollen Kinder über medizinische Maßnahmen, die an ihnen vorgenommen werden, nach adäquater Aufklärung mitentscheiden. Dies gilt besonders in Palliativsituationen.
  • Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit ohne medizinische Gründe (Zirkumzision bei Knaben, Abschneiden der Uvula, Hauteinritzungen etc.) sollten nur im Einverständnis mit dem Betroffenen ab dem Jugendlichenalter erfolgen.
  • Kinder mit ungesichertem Aufenthaltsstatus haben ein Recht auf vollständige medizinische Hilfe, auch bei psychischen Störungen und bei Behinderungen, z. B. durch den Einsatz von Dolmetschern, die Berücksichtigung kulturspezifischer Besonderheiten und die zeitnahe Versorgung mit Hilfsmitteln (§§ 22 und 24 der UN-Kinderrechtskonvention).
  • Kinder nach Gametenspende haben Anspruch auf die Kenntnis ihrer biologischen Eltern.
  • Kinder müssen vor Spiel- und Internet-Sucht bewahrt werden und sie dürfen keinen Zugang zu jugendgefährdenden Internet-Seiten haben.

Um diese und viele andere Kinderrechte in Deutschland zu verbessern und zu kontrollieren hat die DAKJ im Frühjahr 2015 eine vielbeachtete Petition zur Einsetzung eines Kinderbeauftragten im Deutschen Bundestag in Analogie zum Wehrbeauftragten eingebracht, die innerhalb weniger Wochen von über 140.000 Personen unterschrieben wurde. Leider haben sich die beiden derzeitigen Regierungsparteien bisher noch nicht einmal zu einer offiziellen Stellungnahme einigen können, obwohl viele einzelne Politiker aller Parteien ihre prinzipielle Zustimmung signalisiert haben. Weiterhin wird die besondere Rolle der Kinder mit dem Argument nicht anerkannt, sie seien ja als Menschen im Grundgesetz ausreichend berücksichtigt und eine Aufwertung würde das Bestimmungsrecht der Sorgeberechtigten mindern.

Nordrhein-Westfalen will Grundgesetz-Änderung

Anfang März 2017 wurde bekannt, dass das Land Nordrhein-Westfalen im Bundesrat eine Änderung von § 6 des Grundgesetzes beantragen will: In der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 100-1, veröffentlichten bereinigten Fassung, die zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 23. 12. 2014 (BGBl. I S. 2438) geändert worden ist, soll folgender Absatz 5 eingefügt werden:

"Die staatliche Gemeinschaft achtet, schützt und fördert die Rechte und das Wohl des Kindes und trägt Sorge für kindgerechte Lebensbedingungen. Bei allem staatlichen Handeln, das Kinder betrifft, ist das Wohl des Kindes maßgeblich zu berücksichtigen. Jedes Kind hat bei staatlichen Entscheidungen, die seine Rechte betreffen, einen Anspruch auf Gehör und auf Berücksichtigung seiner Meinung entsprechend seinem Alter und seiner Reife."

Es wäre nur folgerichtig, wenn diese geplante Grundgesetz-Änderung und die sich daraus ergebenden Konsequenzen in Zukunft von einem unabhängigen Kinderbeauftragten im Deutschen Bundestag überwacht würden.

Die Erinnerung an Janusz Korczak, den großen Vorkämpfer für die Kinderrechte und die kommende Bundestagswahl in Deutschland sind Gelegenheiten, die Rechte für Kinder in unserer immer älter werdenden Gesellschaft mit ihren zunehmenden Gefährdungen des Kindeswohls in vielen Bereichen bzw. der fortschreitenden Auflösung von Strukturen, die bisher Kinder beschützt haben, gezielt einzufordern.


Literatur
beim Verfasser

Korrespondenzadresse
Prof. i. R. Dr. H. M. Straßburg
Emil von Behringweg 8
97218 Gerbrunn

Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2017; 88 (5) Seite 341-342