Die Daten sind alarmierend: 10 Prozent aller schulpflichtigen Kinder und Jugendlichen sind behandlungsbedürftig psychisch krank.

Von 11 Millionen Schüler, die im vergangenen Schuljahr an allgemeinbildenden sowie beruflichen Schulen unterrichtet wurden, sind das immerhin eine Million Kinder und Jugendliche. Somit sitzen in jeder Schulklasse heute im Schnitt zwei Schüler mit behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankungen, wobei diese bei Jungen doppelt so häufig wie bei Mädchen auftreten.

Damit schockte Dr. Bodo Müller, Ärztlicher Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie im St. Marien-Hospital in Düren, die gut 700 Teilnehmer des Kinder-& Jugendärztetages in Berlin. Die daraus resultierenden Folgeerscheinungen werden häufig zudem längst nicht so beachtet wie es eigentlich zwingend notwendig wäre. Dazu zählt für Müller die Schulphobie und die Schulangst, die deutlich vom „unlustbedingten Schulschwänzen“ unterschieden werden müssen. Die Prävalenz von schulvermeidendem Verhalten und Schulschwänzen – definiert als regelmäßiges und in erheblichem Ausmaß stattfindendes Abwesend sein von der Schule - liegt zwischen 5 und 10 Prozent.

Laut Müller besteht dabei ein enger Zusammenhang zwischen externalisierenden Störungen, der Störung des Sozialverhaltens und oppositionellen Störungen. Setzt das Schulschwänzen vor dem 10. Lebensjahr ein, sind die Behandlungsprognosen eher ungünstig. Wird die Schule aber verstärkt erst im Jugendalter gemieden, kommen „Autoritätskonflikte“ noch mit hinzu. Dennoch seien hier die Behandlungserfolge „perspektivisch günstiger einzuordnen.“ Für viele Pädiater ein durchaus überraschender Befund, da bei Autoritätskonflikten ja auch der Zugang zu den Jugendlichen erschwert ist.

Doch was kennzeichnet nun eine richtiggehende Schulphobie und was führt zur regelrechten Schulangst?

Schulphobie: Hauptkriterium dieser emotional bedingten Störung ist eine „nicht begründete, übermäßig ausgeprägte Angst vor der Trennung vor einer nahen Bezugsperson“, wie etwa zu den Eltern, zu denen eine enge Bindung besteht. Diese geht einher mit der unrealistischen Befürchtung, dass dieser Bezugsperson während des Schulbesuchs etwas zustoßen oder sie weggehen und nicht mehr wiederkommen könnte. Daraus lässt sich die Verweigerung erklären, nicht mehr die Schule besuchen zu können. Mit weitreichenden Folgen, weil diese Trennungsangst zu wiederholten Alpträumen, massiver Übelkeit oder zu Herzrasen und Ängsten sowie Wutausbrüchen bis hin zu sozialer Isolation führen können.

Müller: „Diese Symptomatik sind anhaltend und mit intensivem Leiden verbunden.“ Erschwerend kommt noch hinzu, dass auch bei der Hauptbezugsperson häufig eine erhöhte Trennungsangst besteht, die ebenso Angststörungen und Depressionen hervorrufen kann. Kein Wunder, dass die Behandlung der Schulphobie, bei der sich die Schulfehlzeiten bis zu einem halben Jahr aufhäufen können, ausgesprochen ungünstig ist. Je nach Dauer der Fehlzeiten und der Intensität der Trennungsängste können laut Müller lediglich 30 bis 60 Prozent der betroffenen Schüler erfolgreich behandelt werden.

Schulangst: Diese tritt vor allem bei einer konkreten übersteigerten Angst vor bestimmten Schulsituationen auf. Dazu zählen soziale Ängste, Prüfungsängste, Mobbing von Seiten der Lehrer oder anderer Schüler oder auch Leistungs- und Versagensängste. Meist geht die Schulangst auch mit einer mangenden sozialen Kompetenz einher. Daraus entstehen häufig Kontrollverluste, Atemnot oder Schwächegefühle und auch eine „erhöhte Vulnerabilität für Angststörungen“. Obwohl Jugendliche mit Schulangst sehr geeignete Mobbingopfer sind, sind die Behandlungsoptionen nach Darstellung Müllers günstiger als bei der Schulphobie.

Voraussetzung für alle Interventionen ist aber eine genaue Anamnese und vor allem ein frühzeitiger Beginn der Behandlung, da sämtliche Störungen rasch chronifizieren. Zum Einsatz kommen sollten vor allem eine kognitive Verhaltenstherapie, eine Familienberatung und schulische Beratung sowie eine psychoedukatives (Sport)-Programm.

Für die niedergelassenen Pädiater hatte Müller dann abschließend noch eine Take-Home-Message parat: Bei der Behandlung sollten nicht primär die „vermeintlichen“ Ursachen angegangen werden, sondern vielmehr die noch vorhandenen „aufrechterhaltenden Faktoren“ herausgestellt und gestärkt werden.


von Raimund Schmid