Nicht nur die Menschen leiden unter Adiposogigantismus, auch die Autos und Kliniken, findet Kinderarzt Stephan H. Nolte. Muss wirklich alles immer größer und aufwendiger werden? Was dabei in Bezug auf Kinder zu wünschen wäre, fasst Nolte in seiner Praxiskolumne zusammen?

Nicht nur unsere Kinder und Erwachsenen leiden an Adipositas. Bekanntlich sind dicke Kinder ja nicht nur dick, sondern auch groß, besonders in der Präpubertät. Das spiegelt unsere von Megalomanie geprägte Gesellschaft wider: So leiden nicht nur die Menschen, sondern beispielsweise auch die Autos unter Adiposogigantismus.

Das durchschnittliche Auto ist in den letzten 25 Jahren um gute 12 Zentimeter breiter geworden, und über zwei Drittel aller Autos sind, von Außenspiegel zu Außenspiegel gemessen, über 2 Meter breit und können an engen Baustellen häufig gar nicht mehr auf der linken Spur fahren. Die offizielle Parkplatzbreite von 2,3 Metern reicht nicht mehr aus; 2,5 Meter werden von Automobilverbänden gefordert. 750 Kilogramm wog beispielsweise der VW Golf 1974, heute bringt das Basismodell mehr als 1,2 Tonnen auf die Waage, das schwerste Modell gar das Doppelte: 1.584 Kilogramm (Golf VII 2.0 TDI GTD 4motion, DSD-Automatikgetriebe). Der VW Golf hat einmal mit 3,71 Metern begonnen. Heute misst er 4,26 Meter, pro Zentimeter hat er über 10 Kilogramm zugekommen. Vor 40 Jahren hatten Autos durchschnittlich 60 PS. 2017 lag die Leistung von Neuwagen im Schnitt bei 152 PS und überschritt erstmalig die 150-PS-Grenze. Vor 10 Jahren waren es rund 130, vor 20 Jahren rund 100 PS. Der durchschnittliche Neuwagen hat heute mehr Antriebsleistung als der stärkste Porsche in den 60er-Jahren. Die derzeitigen Konzepte zur Elektromobilität werden daran nicht viel ändern. Nur die Luxemburger, Schweizer und Schweden lieben noch stärkere Autos als die Deutschen; die Briten und die Norweger liegen etwa gleich auf, aber Dänen, Österreicher, Franzosen, Italiener und Spanier begnügen sich mit deutlich weniger Leistung.

Zurück zur Medizin: Leiden nicht auch die Kliniken heute an Adiposogigantismus? Denn was für die Autos gilt, gilt ebenso für Neubauten, auch für Kinderkliniken, die früher meist klein und schnuckelig waren. Heute sind die Neubauten heilige Hallen mit umbauten Räumen, die schon fast an weitläufige Kathedralen zur Anbetung von Gesundheit und Medizin erinnern. Über die Ästhetik lässt sich trefflich streiten. Und darüber, ob die menschliche Betreuung und die klinische Pädiatrie dabei besser geworden sind, auch. Während ein Inkubator früher nicht einmal 6 Quadratmeter beanspruchte, sind es heute mindestens 20. Als ich Ende der 70er-Jahre in Paris ein Auslandssemester absolvierte, wurde in beengten und improvisierten Räumlichkeiten, die teils 400 Jahre alt waren, auch gute Medizin gemacht.

Das muss vielleicht heute nicht mehr unser Maßstab sein. Aber dennoch stellt sich die Frage, ob jetzt wirklich alles immer gänzlich neu, größer und aufwendiger sein muss als früher. Denn damit wächst auch die Gefahr, dass es dabei unübersichtlich (wie ein SUV) oder auch unbehandelbar (wie so häufig die Adipositas) werden kann. Und ob die Qualität – vor allem die menschliche – in dem Rahmen wächst wie das äußerliche Wachstum, wage ich zu bezweifeln. Schließlich wissen wir alle, dass Adiposogigantismus nicht wirklich gesund ist.

Was wir uns dagegen "XXL" wünschen: Die öffentliche Wahrnehmung der Bedürfnisse von Kindern, so auch das Bewusstsein dafür, dass kranke Kinder keine kleinen Erwachsenen sind, für die ein entsprechend kleines Budget locker ausreicht. Es ist an der Zeit, dass Politik und Selbstverwaltung in dieser Richtung tätig werden, das wäre dann wirklich einmal gigantisch!


Dr. Stephan H. Nolte, Marburg/Lahn


Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2020; 91 (1) Seite 6