Das Fortbewegen aus eigener Kraft - zu Fuß oder per Rad - ist eine der wichtigsten präventivmedizinischen Maßnahmen überhaupt, die früh geschult werden muss, findet Stephan Nolte - und beschreibt in seiner Praxiskolumne, wie Pädiater in der Praxis ihrer Verantwortung diesbezüglich gerecht werden können.

Die mittlere Pendeldistanz von sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ist nach einer Pressemitteilung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung vom 17. 04. 2018 im Zeitraum von 2000 bis 2014 um 21 % von durchschnittlich 8,7 auf 10,5 Kilometer angestiegen. Davon werden zwei Drittel mit dem Auto zurückgelegt. Gleichzeitig veröffentlichte das wissenschaftliche Institut der AOK am 26. 03. 2018 aus den Daten ihrer Versicherung, dass die Krankheitstage aufgrund psychischer Erkrankung in Abhängigkeit zur Pendeldistanz zunehmen und dass Arbeitnehmer, die lange Anfahrtswege zur Arbeit in Kauf nehmen, offensichtlich dadurch psychischen Belastungen ausgesetzt sind. Von dem allgemeinen Risiko des Straßenverkehrs – wie etwa Unfälle und Staugefahr – ganz abgesehen.

Es sind aber nicht nur die Arbeitnehmer: In der Praxis erleben wir die ständige Zunahme der Wege bei Kindern: bei den Kleinkindern zur Kita/zum Kindergarten, bei den Schulkindern zur Schule. Bei den in den beiden Studien ermittelten reinen Arbeitswegen ist noch zu berücksichtigen, dass (zu) viele Eltern ihre Kinder auf dem Weg zur Arbeit ja auch noch in Kindergärten und Schulen absetzen und/oder Umwege fahren.

Im pädiatrischen Alltag werde ich zunehmend mit dem großen Wege-Stress konfrontiert, den junge Familien haben. Neben den eigenen Wegen zur Arbeit kommen also auch die Fahrten zur Kinderunterbringung hinzu: Das eine Kind muss dort in die Kita, das zweite woanders in den Kindergarten und das dritte wiederum andernorts in die Schule. Und das alles überwiegend mit dem Auto.

Das sind Erfahrungen aus der Praxis. Doch wie könnte man dazu an belastbare Daten kommen? Das alltagsrelevante Thema der Wege, der Wegzeiten und -risiken, wird unter dem Aspekt der Gesundheit noch gar nicht eingehend betrachtet. Vor allem aber: Wie könnte man das ändern? Es nützt nichts, das alles zu konstatieren, ohne Lösungsvorschläge anzubieten.

Dazu müsste aber erst einmal das Problem benannt und in seiner gesellschaftlichen Relevanz erkannt werden. Große Unternehmen, allen voran der Staat mit seinen Bediensteten, könnten systematisch Arbeitsplatztauschbörsen einrichten. Es ist nicht einzusehen, dass etwa ein Finanzbeamter aus Freiburg in Emmendingen arbeitet, sein Kollege aus Emmendingen in Freiburg (wie ich es früher ausweislich der KFZ-Kennzeichen auf den Mitarbeiterparkplätzen einmal untersucht habe).

Das konsequente Hinterfragen von insbesondere mit dem Auto zurückgelegten Wegen ist nicht nur unter ökologischen, sondern auch unter direkten und indirekten gesundheitlichen Aspekten notwendig. Bewegungsmangel gilt als größtes gesundheitliches Risiko, gerade auch schon bei den Kindern. Das Fortbewegen aus eigener Kraft zu Fuß oder per Rad ist demnach eine der wichtigsten präventivmedizinischen Maßnahmen überhaupt, die jedoch früh – möglichst bereits auf dem Weg in die Kita – geschult werden muss. Das ist seit langem bekannt, die Zahlen aber sprechen eine andere Sprache.

Wir Pädiater sollten daher in der Praxis unserer Verantwortung gerecht werden und nachfragen oder – noch besser – bei jeder Vorsorge explizit darauf hinweisen.



Autor:
Dr. Stephan H. Nolte, Marburg/Lahn


Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2018; 89 (5) Seite 302