Für den öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) - ein Appell in eigener Sache. Von Ulrike Horacek, die seit fast 35 Jahren selbst im ÖGD arbeitet.

Gern würde ich die Segel neu setzen, aber derzeit herrscht Flaute: Der Fachausschuss ÖGD der DGSPJ ruht. Es mangelt schlichtweg an einem Team, das an den (Neu-)Start gehen möchte. Das Boot wäre vorhanden in Form der Fachausschussstruktur, die von der DGSPJ getragen wird. Es könnte Fahrt aufnehmen und auf Kurs gebracht werden. Derzeit liegt die FA-ÖGD aber wie erwähnt auf Trockendock.

Das bisherige Team ist nicht gescheitert oder gar gekentert, sondern hat unter anderem das Thema Konzeption für den Einsatz von Schulgesundheitsfachkräften weiter gestaltet und befördert. Doch gab es für die Crewmitglieder viele individuelle zu akzeptierende gute Gründe, auszuscheiden, zumal sie fast alle sehr tatkräftig auch auf anderen "Nachbarschiffen" im Einsatz waren und sind.

Nach Abstimmung mit der Reederei wäre auch ein Kapitänswechsel möglich, sofern für den dann ehemaligen Kapitän noch ein Vorschoterplatz übrigbliebe, um in bescheidenerem Umfang Segel zu setzen.

Folgende Herausforderungen und Themen lassen sich auf die Segel schreiben:
  • Kinderschutz
  • Impfschutz
  • Kinder psychischer kranker Eltern
  • Bundesteilhabegesetz und Konsequenzen
  • Vermittlung von Gesundheitskompetenz in Kitas und Schulen
  • frühe vorausschauende Beratung werdender Eltern
  • Stillförderungskonzepte
  • Vernetzung vor Ort: Regionalkonferenzen mit SPZ und Kinder- und Jugendärzten aus Praxis und Klinik
  • Stärkung und Ausbau betriebsmedizinischer Aufgaben in Kita und Schule
  • kommunale GBE und Konsequenzen
  • neue Morbiditäten in der Jugendmedizin
  • Chancen und Risiken der digitalen Welt und vieles andere mehr.

Verlockend ist auch die Chance, künftig sozialpädiatrische Inhalte kompetent und vehement in die Arbeit des Zukunftsforums Public Health einzubringen und im weiteren Prozess zu vertreten.

Das mögliche Spektrum umfasst alle Themen mit Bezug zur Sozialpädiatrie und zur Bevölkerungsgesundheit. Aus mehreren Böen mit ähnlicher Richtung kann sich schon eine steife Brise entwickeln, und teamfähige Crew- bzw. Ausschussmitglieder können gemeinsam viel bewirken. Also heuern Sie gerne an!

Warum überhaupt öffentliche Gesundheit? Das "Flussabwärts-Gleichnis"

2001 erlebte ich Rolf Rosenbrock in einer Veranstaltung, die sich mit den Zusammenhängen von Bevölkerungsgesundheit, Armut und Politik beschäftigt hat. Seitdem ist mir die von ihm zitierte Parabel, mit der er die Rolle des Öffentlichen Gesundheitsdiestes erklärt hat, immer wieder in den Kopf gekommen, und ich habe sie selbst bei vielen Vorträgen und Seminaren vor demselben Hintergrund zitiert:

"Ein Arzt steht am Ufer eines schnell fließenden Flusses und hört die verzweifelten Schreie einer ertrinkenden Frau. Er springt ins Wasser, holt die Frau heraus und beginnt mit der künstlichen Beatmung. Als sie gerade wieder selbst zu atmen anfängt, hört er einen weiteren Hilfeschrei. Der Arzt springt abermals ins Wasser und holt einen weiteren Ertrinkenden ans Ufer und beginnt die Reanimation. Wiederum ein Hilferuf ... Das geht immer so weiter in endlosen Wiederholungen.

Der Arzt ist so sehr damit beschäftigt, ertrinkende Menschen zu retten, dass er keine Zeit findet, stromaufwärts hinter der Biegung des Flusses nachzusehen, warum denn so viele Menschen ins Wasser stürzen und Angst, Schmerz und vielleicht gar den Tod erleiden. Vielleicht gibt es stromaufwärts eine Brücke ohne Geländer oder einen brüchigen Uferweg. Vielleicht bringt dort niemand den Kindern das Schwimmen bei. Vielleicht fehlen auch nur einige Warntafeln am Ufer. Vielleicht enthält das Wasser giftige Substanzen, die beim Schwimmen zu Lähmung oder Desorientierung führen. Vielleicht müssen die Menschen hier, um ihren Lebensunterhalt zu sichern, nach giftigen Schwämmen tauchen, die sie veräußern.

Fände der Arzt Zeit, stromaufwärts zu suchen, könnte er wahrscheinlich gemeinsame Ursachen für die vielen individuellen Unglücksfälle entdecken und diese möglicherweise verringern oder abstellen."

Was in diesem Bild der Systemlogik des Sozialgesetzbuches V folgt, ist unschwer zu erkennen. Natürlich wird hier eine Extremsituation fokussiert, in der es um akute Lebensgefahr geht, d. h. um das Retten und nicht um das Behandeln von Krankheiten und Lindern von Symptomen. Der verkürzte Blick ist gerechtfertigt, da uns allen dieser Bereich vertraut ist.

Wie sieht es aber aus mit den in den "Vielleichts" angesprochenen Mutmaßungen? Sehr vordergründig geht es bei den fehlenden Warntafeln, der Brücke ohne Geländer und dem brüchigen Uferweg um Verhältnisprävention. Dies mag gerade hier besonders effektiv sein, ist aber nicht Handlungsfeld der ambulanten oder stationären Krankenversorgung. Kommunale Daseinsfürsorge ist hier elementar gefordert. Wie in vielen Gesundheitsdienstgesetzen der Länder niedergelegt, bedarf es eines Akteurs, einer Struktur vor Ort, die sich im ÖGD organisiert. Governance muss fachkundig und tatkräftig unterstützt, health in all policies angestoßen werden, bestenfalls bevor sich fatale Folgen abzeichnen.

Nicht selten bedürfen solche Impulse einer Datengrundlage – möglichst nicht erst der Mortalitätsstatistik oder, um im Bild zu bleiben, einer regionalen Statistik von unfallbedingten Todesfällen. Kleinräumige Handlungsschwerpunkte lassen sich durch eine ebensolche Gesundheitsberichterstattung identifizieren, die fragestellungs- und konzeptgeleitet ist. Nur so kann sie dem Anspruch einer fundierten Politikberatung gerecht werden. Und nur unter dieser Voraussetzung erfüllt der ÖGD seine implizite Aufgabe, Mandatschaft und Verantwortung für Gesundheitsschutzbelange der Bevölkerung zu übernehmen.

Schwimmen können mag im Gleichnis für "erworbene Gesundheitskompetenz" stehen. Bildungseinrichtungen wie Kitas und Schulen haben hier ganz wesentliche Aufgaben, aber Kommunen müssen dafür auch ausreichende Kapazität an Schwimmbädern zur Verfügung stellen. Es sollte eine möglichst datengestützte Politikberatung erfolgen, nicht ausgelöst durch Unfälle oder Skandale und so frühpräventiv wie möglich.

Schutz und Erhalt von Gesundheit muss als Aufgabe kommunaler Daseinsfürsorge gesehen und gestaltet werden, wie sich aus dem Gleichnis ableiten lässt. Dazu gehört auch das Bemühen, größtmögliche gesundheitliche Chancengleichheit in Alltagskontexten zu befördern, dort wo Kinder und Familien leben, wohnen, arbeiten, spielen, lernen, Freizeit und Miteinander gestalten.

Auch nach fast 35 Jahren Arbeit im ÖGD versichere ich: Das können sehr anspruchsvolle und erfüllende Aufgaben sein!


Korrespondenzadresse
Dr. Ulrike Horacek, MPH
Leiterin des Fachausschusses ÖGD in der DGSPJ

Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2019; 90 (5) Seite 368-369