Durch den Film "Vincent will Meer“, der von einen jungen am Tourette-Syndrom erkrankten Mann handelt, ist diese motorische und vokale Tic-Störung auch einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden. Mit vielfältigen Folgen.

So ist das Tourette-Syndrom nun auch in den Sozialen Medien wie Tiktok und Youtube präsent. Im Youtube-Kanal "Gewitter im Kopf" zeigen millionenfach geklickte Videos Tourette-Erkrankte und ihren Alltag. Die vom Tourette-Syndrom Betroffenen fluchen, beleidigen, grunzen, zucken, zwinkern und zeigen obszöne Geste. Diese meist sehr lustig gemachten Videos kommen gut an und haben inzwischen Tausende von Followern.

Kritik kommt aber nun zunehmend von Neurologen und Psychiatern. Denn möglicherweise werden diese Videos von Darstellern ins Netz gestellt, die nur vorgeben, sie hätten Tourette. Sie wollen provozieren, wobei es sich häufig um Slapstick und Comedy handelt. Und offenbar bleiben diese Videos nicht ohne Folgen, denn in die Praxen von Neurologen und Psychiatern kommen vermehrt Patienten, die ebenfalls ein Tic-ähnliches Verhalten zeigen, nachdem sie diese Videos gesehen haben.

Diesen Patienten würde dann ein Tourette-Syndrom attestiert, obwohl sie dieses Verhalten nur bewusst oder auch vielleicht auch unbewusst nachahmen. Dr. Theresa Paulus und ihr Team vom Institut für Systemische Motorikforschung in Lübeck haben nun bei 13 Patienten im Alter von 12 bis 24 Jahren (median 16 Jahre) untersucht, ob es sich wirklich um Tourette handelt. Die acht männlichen und fünf weiblichen Patienten zeigten die Tics erst nach dem Betrachten der Videos. Die Symptomatik der mit Video-induzierten Tics (TLB-SM, Tic like behaviours after the consumption of social media) war so schwer, dass sie von sich aus oder auf Empfehlung von Angehörigen medizinische Hilfe suchten. Die Ärzte verglichen die Symptomatik mit jeweils 13 ähnlich alten Personen, die eine Tourette-Diagnose basierend auf dem DSM-5 aufwiesen.

Es zeigte sich, dass sich die Symptomatik zwischen Patienten mit TLB-SM und Tourette deutlich unterschieden. Die Symptome bei allen TLB-SM-Patienten entwickelten sich sehr oft innerhalb eines Tages mit einer schweren klinischen Ausprägung. Bei den Tourette-Patienten entwickelte sich die Symptomatik viel langsamer. Praktisch alle Patienten mit TLB-SM zeigten komplexe Tic-Bewegungen, bei den vom Tourette-Syndrom Betroffenen indes niemand.

Die Bewegungen bei TLB-SM waren fast immer langsam und tonisch und fast immer zielgerichtet und kontextabhängig, dies war bei keinem der Betroffenen mit Tourette zu beobachten. Zudem bewegten Patienten mit TLB-SM meist Extremitäten und Oberkörper während Tourette-Patienten eher zu Bewegungen mit Kopf und Hals neigten. „Echte“ Tourette-Patienten versuchen auch meist, die Tics im Beisein anderer Menschen zu unterdrücken, während bei TLB-SM die Tics vor allem in der Anwesenheit anderer Personen auftreten. Unterschiede zeigen sich auch im Repertoire der Tics, TLB-SM Patienten variieren ihr Tic-Repertoire sehr stark, nicht aber Tourette-Betroffene, umgekehrt variiert die Schwere der Symptomatik bei Tourette erheblich, nicht bei TLB-SM.

Die Forschungsgruppe um Theresa Paulus sieht bei TLB-SM ein neues Phänomen und bezeichnen es als „pandemisches Tic-ähnliches Verhalten“, das sich jedoch deutlich von einem echten Tourette-Syndrom unterscheidet.

Katharina Maidhof-Schmid


Literatur Paulus T et al. Pandemic Tic-like Behaviours Following Social Media Consumption. Mov Dis 2021; https://doi.org/10.1002/mds.28800

Katharina Maidhof-Schmid