Seit Beginn der Corona-Pandemie bieten Kinderärzte vermehrt Video-Sprechstunden an, um die Praxisbesuche zu reduzieren. Welche Vor- und Nachteile haben diese Sprechstunden? Und wird dieses Angebot auch langfristig zum Praxisalltag gehören oder wieder abgeschafft? Wir haben nachgefragt bei Kinderarzt Dr. Stephan H. Nolte aus Marburg.

Im Interview:


Dr. med. Stephan Heinrich Nolte ist seit über 25 Jahren in Marburg als ­Kinder- und Jugendarzt niedergelassen, ist Lehrbeauftragter an der Universität Marburg, Fachjournalist und Buchautor. Er hat 5 Kinder und 9 Enkelkinder.

Redaktion Kinderärztliche Praxis: Seit wann bieten Sie Video-Sprechstunden an?

Dr. Stephan H. Nolte: Erst seit Corona, genauer gesagt - seit Anfang April. Aber schon seit einigen Jahren schicken Eltern immer häufiger von ihrem Smartphone Bilder oder Videos von den Symptomen und Auffälligkeiten ihrer Kinder, und zwar zu jeder Tages- und Nachtzeit. Die schnell verfügbare und kommunizierbare Technik dieser Art Bildgebung im Alltag hat große Vorteile in der Dokumentation, etwa bei schwer genau beschreibbaren Hauterscheinungen, wie Blutschwämmchen, Erythema chronicum migrans und ähnlichem, aber auch Nachteile: Der sich typisch rauh und raspelig anfühlende Hautausschlag bei Scharlach etwa kann nur haptisch erfasst werden. Auch sonst sind je nach Lichtverhältnissen und Qualität der Bilder Aussagen oft nur beschränkt möglich. In der Videosprechstunde ist es kaum möglich, Hautausschläge zu beurteilen, weil es die Technik nicht hergibt. Wir haben uns tatsächlich wegen Corona entschlossen, die Video-Sprechstunde einzurichten, um einen optischen direkten Kontakt mit dem Gegenüber zu haben, sich nicht hinter „Vermummung“ verstecken zu müssen und den Publikumsverkehr zu reduzieren.

Haben Sie unterschiedliche Anbieter getestet?

Nolte: Wir haben zuerst das Patientus-System unseres Praxissoftwareproviders genutzt, welches ein halbes Jahr kostenfrei zur Verfügung gestellt wird, danach aber pro Arzt ca. 50 Euro + MwSt. kosten soll. Damit kann man die Video-Sprechstunde direkt aus der Praxissoftware starten. Der Patient erhält per E-Mail einen Zugangscode, mit dem er sich kurz vor dem vereinbarten Termin einloggt. Die Software unseres Berufsverbandes, die Praxis-App „Mein Kinder- und Jugendarzt“, war zu dem Zeitpunkt noch nicht zertifiziert.

Und welchen Anbieter nutzen Sie jetzt?

Nolte: Inzwischen ist die Praxis-App „Mein Kinder- und Jugendarzt“ zertifiziert, sodass wir diese wesentlich preiswertere Lösung verwenden. Die Voraussetzung ist allerdings, dass das Kind mit der App in der Praxis angemeldet ist, die Eltern also das Programm installieren müssen. Es bietet darüber hinaus noch viele andere Möglichkeiten der Kommunikation mit der Praxis, ist also weit mehr als nur eine Video-Sprechstunde.

Wie nehmen Patienten/Eltern das Angebot an? Und wie viele Video-Sprechstunden pro Woche gibt es?

Nolte: Insgesamt ist die Nachfrage erstaunlich gering. Selbst von weiter her kommende Eltern, denen ich die Video-Sprechstunde angeboten habe, nahmen auch in Corona-Zeiten die Anreise in Kauf, weil sie doch lieber persönlich mit dem Arzt sprechen wollten, insbesondere, wenn sie neu waren und die ganze Atmosphäre der Praxis wahrnehmen wollten. Und die Familien, die man ohnehin kennt, greifen lieber zum Telefon, da ist die Optik nicht so wichtig. So hat sich der Installationsaufwand eigentlich nicht gerechnet, auch wenn er nicht besonders groß ist. Aber es ist gut, diese Möglichkeit zu haben. Es sind derzeit etwa 2-3 Wünsche pro Woche.

Wie zufrieden sind Sie mit den Abrechnungsmöglichkeiten?

Nolte: Die zusätzlich geschaffenen Abrechnungsziffern ermöglichen durchaus eine angemessene Abrechnung, da ja die üblichen Beratungsziffern mit angesetzt werden können.

Einige Vor- und Nachteile der Video-Sprechstunde haben Sie bereits genannt. Wo sehen Sie weitere?

Nolte: Ein weiterer Nachteil ist, dass man sich festlegt, zu einem bestimmten Zeitpunkt zur Verfügung zu stehen. Das ist verständlicherweise im Alltag nicht so leicht, und wird noch schwieriger, wenn die Beanspruchung in den derzeit ruhigen Praxen wieder anzieht. Im Übrigen bin ich enttäuscht von der Bildqualität, die trotz hochwertiger Komponenten hinter der eines Smartphones zurücksteht. Außerdem ist bei einem normalen stationären PC ein Nachteil, dass man auf den Bildschirm und nicht in die Kamera schaut, wenn man seinen Gesprächspartner auf dem Bildschirm sieht, und dieser dadurch das Gefühl hat, man schaue ihn nicht direkt an. Auf dem Smartphone sind die Blickachsen von Kamera und Bildschirm näher. Aber WhatsApp oder Skype zu nutzen, hat neben der fehlenden Zertifizierung den Nachteil, dass man seine direkten Kontaktdaten weitergibt und so jederzeit zur Verfügung steht, auch nachts um drei, um den grünen Windelinhalt des Säuglings zu begutachten.

Blicken wir mal in die Zukunft: Behalten Sie das Angebot nach der COVID-19-Pandemie bei, wenn sich der Praxisbetrieb wieder normalisiert hat?

Nolte: Ja, wir werden das Angebot beibehalten, weil es zukunftsträchtig ist und erlaubt, selbst über Kontinente hinweg bildlich zu kommunizieren, ohne datenschutzrechtliche Vorgaben zu verletzen. Wenn die Mobilität der Gesellschaft wieder zunimmt, werden auch die Anfragen aus dem Urlaub oder nach einem Wegzug in ein anderes Land wieder zunehmen. In einer Universitätsstadt wie Marburg habe ich immer wieder auch nach Jahren noch Anfragen. Allerdings werde ich keine 50 Euro pro Arzt pro Monat investieren, sondern auf die Lösung des Berufsverbandes über die Praxis-App zurückgreifen.

Vielen Dank für diesen ersten Erfahrungsbericht!



Interview: Angelika Leidner