Rund zwei Drittel der ukrainischen Kinder sind auf der Flucht. Welchen Gesundheitsrisiken sind sie ausgesetzt und wie kann man sie bestmöglich versorgen, insbesondere wenn chronische Erkrankungen vorliegen?

Nach Angaben von UNICEF befinden sich rund zwei Drittel der ukrainischen Kinder auf der Flucht. Bereits in den ersten Monaten nach Kriegsbeginn mussten 4,8 der 7,5 Millionen in der Ukraine lebenden Kinder ihren Wohnort verlassen, davon wurden 2,8 Mio. innerhalb des Landes vertrieben und 2 Mio. sind über die Grenzen geflüchtet.

Nahezu alle (5,7 Mio.) in der Ukraine verbliebenen Kinder sind von Schulschließungen betroffen. Kinder in der Ukraine werden Opfer oder Zeuge von Misshandlungen und Gewalt. Sie leben in Kellern und Schutzbunkern und sind dort zu über 50 % nicht ausreichend mit Wasser und Nahrungsmitteln versorgt. Es sind offiziell 186 getötete und 344 verletzte Kinder zu beklagen, tatsächlich dürften es weit mehr sein. Nach Angaben des ukrainischen UN-Botschafters sind über 121.000 Kinder nach Russland deportiert worden.

UNICEF: "einfach unglaublich"

Es ist zwar eine bekannte, aber auch eine immer wieder zutiefst erschütternde Tatsache, dass Kinder die Hauptleidenden von Kriegshandlungen sind. Zu befürchten ist aktuell, dass Gewalt gegen Zivilisten (und damit gegen Kinder), deren Tötung sowie die Zerstörung der lebensnotwendigen Infrastruktur nicht nur einen Kollateralschaden des Angriffskrieges, sondern per se ein konkretes Kriegsziel darstellen. Der Leiter der UNICEF-Nothilfe Manuel Fontane beschreibt diese Situation als "einfach unglaublich" und dass er so etwas in 31 Jahren humanitärer Arbeit noch nicht gesehen habe. Auch wenn – wie von Fontante vor dem UN-Sicherheitsrat erneut gefordert hat – die sofortige Einstellung der Kriegshandlungen höchste Priorität haben muss, ist es zugleich nötig, auf die entstanden Realitäten zu reagieren und geflüchtete Kinder bestmöglich zu versorgen.

Um dies zu ermöglichen, sind gute Vorkenntnisse bezüglich des Gesundheitszustandes der Kinder notwendig. Bereits für Kinder, die aus Syrien geflüchtet sind, konnten Beeinträchtigungen der körperlichen und psychischen Gesundheit gefunden werden [1]. Es ist ein besonderes Verdienst der Kollegen Ludvigsson und Loboda des Karolinska-Institutes in Schweden, die in einer Metaanalyse über 100 Arbeiten zum Gesundheitsstatus von ukrainischen Kindern zusammengefasst haben [2]. Deren Ergebnisse sind nun im April dieses Jahres in Acta Paediatrica publiziert worden.

Kinder in der Ukraine – schlechter Gesundheitsstatus

Insgesamt wird den Kindern ein schlechter körperlicher und psychischer Gesundheitszustand attestiert. Die Kindersterblichkeit (unter 5 Jahren) liegt mit 8/1.000 doppelt so hoch wie in Deutschland (und Polen und Ungarn) und die Lebenserwartung liegt mit 73,2 Jahren deutlich unter der von Deutschland und anderen westlichen Ländern. Kinder in der Ukraine sind multiplen Gesundheitsrisiken ausgesetzt:
  • hohe Unfallrate, insbesondere Ertrinkungsunfälle
  • Infektionskrankheiten bei schlechter Impfrate, hoher Anteil an multiresistenten Keimen und hohen Inzidenzen für Tuberkulose und HIV
  • erhöhter Rate von Adverse ChildExperiences, insbesondere häusliche Gewalt
  • erhöhter maternaler Alkoholkonsum während der Schwangerschaft, Teenager-Schwangerschaften
  • erhöhte Rate an ADHS und externalisierenden Verhaltensstörungen.

Zurecht weist dieser Artikel darauf hin, dass ein hohes Risiko besteht, dass viele dieser Risikofaktoren im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg aggravieren, insbesondere die psychischen Belastungen. Hier ist es wichtig, Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen. Aus der Ukraine geflohene Kinder benötigen eine Kontinuität in der medizinischen Betreuung, insbesondere wenn chronische Erkrankungen vorliegen.

Eine frühe Alltagsroutine mit institutionalisierter Edukation (Kindergarten, Schule) ist nicht nur eine entscheidende Voraussetzung für eine Integration, sondern auch für die Stabilisierung der psychischen Gesundheit. Dies benötigt dringend eine kultur- und traumasensitive interdisziplinäre Behandlung [3, 4], wie sie an vielen Sozialpädiatrischen Zentren vorgehalten wird.


Literatur
1. Soykoek S, Mall V, Nehring I, Henningsen P, Aberl S (2017) Post-traumatic stress disorder in Syrian children of a German refugee camp. Lancet 389 (10072): 903 – 904. https://doi.org/10.1016/S0140-6736(17)30595-0
2. Ludvigsson JF, Loboda A (2022) Systematic review of health and disease in Ukrainian children highlights poor child health and challenges for those treating refugees. Acta paediatrica: doi: 10.1111/apa.16370. Online ahead of print.
3. Hahnefeld A, Sukale T, Weigand E, Dudek V, Münch K et al. (2022) Non-verbal cognitive development, learning, and symptoms of PTSD in 3- to 6-year-old refugee children. Eur J Pediatr 181 (3): 1205 – 1212. https://doi.org/10.1007/s00431-021-04312-8
4. Hahnefeld A, Sukale T, Weigand E, Münch K, Aberl S et al. (2021) Survival states as indicators of learning performance and biological stress in refugee children: a cross-sectional study with a comparison group. BMC psychiatr 21 (1): 228. https://doi.org/10.1186/s12888-021-03233-y


Korrespondenzadresse
Prof. Dr. Volker Mall
Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin e. V. (DGSPJ)
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Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2022; 93 (4) Seite 316-317