Gemeinsam leben: Daran können Kinder und Eltern gemeinsam Freude haben, denn weder sollen die Eltern ihre Kinder, noch die Kinder ihre Eltern lediglich "bespaßen" – es gilt, die Beziehung mit Inhalten zu füllen, findet Dr. Stephan H. Nolte.

Dieser, einem alten ZEIT-Feuilleton vom 04. 10. 2012 entnommene Satz sagt alles; und es ist zu ergänzen, dass das auch für den Bespaßer gilt. Jemanden zu "bespaßen", das hört sich wie eine lästige Pflicht, wie eine Zwangsbeglückung an und macht einem selbst keinen großen Spaß. Es ist also, wie Heike Kunert in dem ZEIT-Feuilleton schreibt, ein hinterhältiges, wenn nicht gar heuchlerisches Verb und hat für mich eine abwertende und verächtliche Bedeutung: Kinder müssen von irgendjemandem "bespaßt" werden, weil sie sich offensichtlich nicht mit sich selbst beschäftigen können. Das "Bespaßen" ist eine erschöpfende und anstrengende Tätigkeit, wenn nicht gar lästige Pflicht, und etwas anderes fällt einem im Umgang mit dem Kind nicht ein.

"Bespaßen" ist ein relativ neues Wort, aber es hat immerhin Eingang in den Duden gefunden: Dafür sorgen, dass jemand Spaß hat; durch Spaßmachen erheitern, zufriedenstellen. In mein Rechtschreibprogramm scheint "bespaßen" noch nicht aufgenommen worden zu sein, denn es wird, egal ob mit oder ohne "ß", als Rechtschreibfehler unterstrichen. Allerdings würde ich "bespaßen" eher als "Rechtdenkfehler" bezeichnen: Offensichtlich denkt derjenige, der von "Bespaßung" spricht, man müsse den ganzen Tag so eine Art Kasperletheater um das Kind spielen, zum Zweck der "Bespaßung" eben. So höre ich oft in der Praxis die Klagen von Vätern und Müttern, dass doch alles so anstrengend sei, nicht nur habe man seine Arbeit, dann müsse man in der Freizeit auch noch die Kinder "bespaßen".

Es geht nicht darum, den Kinderunterhalter zu spielen. Ein Leben mit Kindern hat so viele Gestaltungsmöglichkeiten. Man kann auch die Dinge machen, die man ohnehin gerne machen will, und das Kind daran teilhaben lassen. Selbst bei den Dingen, die man machen muss oder glaubt, sie machen zu müssen, kann man Kinder jeden Alters teilhaben lassen. Dass man dabei einen oder gar 2 Gänge zurückschalten muss, alles etwas länger und umständlicher zugeht, muss man in Kauf nehmen. Dafür kann man eine gemeinsame Lebenswelt teilen und den heute so verbreiteten Entfremdungsprozess zwischen Kinder- und Erwachsenenwelt etwas lockern.

Kinder werden heute in den verschiedensten Betreuungsformen und professionellen "Bespaßungseinrichtungen" wegverwaltet. Anders kann man es nicht bezeichnen, wenn Kinder dem Sichtfeld und der Lebenswelt Erwachsener entzogen werden. Andernorts ist schlichtweg kein Platz für Kinder.

Jean-Jacques Rousseau, oft zitiert und oft missverstanden, hat in vielen seiner Schriften betont, dass die Eltern die ersten und echten Lehrer ihrer Kinder zu sein haben. Er führt an historischen Belegen an, dass etwa Cato seinen Sohn von der Wiege an selbst erzogen habe, und Augustus seine Enkel selbst schreiben und schwimmen lehrte und sie in die Wissenschaften einführte. Die 3 Pflichten eines Vaters: das Kind zu zeugen, zu ernähren und zu erziehen stehen über den beruflichen und privaten Verpflichtungen. So wie die Mutter ihr Kind zu stillen habe, habe der Vater die Kinder zu erziehen. "Wer die Pflichten des Vaters nicht erfüllen kann, hat auch kein Recht, es zu werden". Ihm gelten weder Armut noch Arbeit als Entschuldigung. Was heute sehr hausbacken klingt, war zu seiner Zeit ultramodern und progressiv.

Heute meinen wir, alles Fachleuten überlassen zu müssen: Das gilt auch für die frühe Kindheit: frühe Bildung, professionelle akademische Erzieher und natürlich mit jedem Wehwehchen zum Arzt. Was ist alles an Eigeninitiative und Selbstwirksamkeit verloren gegangen? Statt Erziehung bleibt "Bespaßung"? Ziel einer Erziehung muss sein, das Kind von uns unabhängig zu machen. Der französische Pädagoge Ernest Legouvé hat es so ausgedrückt: l´art d´apprendre à un enfant à se passer de nous. – Erziehung ist die Kunst, den Kindern beizubringen, ohne uns auszukommen". Der Grundgedanke einer "Bespaßung" als eine Erziehung zum möglichst lebenslangen "Spaßhaben" führt uns geradewegs in die vielzitierte Spaßgesellschaft, deren Ende ja bereits verkündet wurde.

Mit Kindern leben: Alltag und Freizeit, Spaß und Leid, Pflichten und Vergnügen. Daran können Kinder und Eltern gemeinsam Freude haben, denn weder sollen die Eltern ihre Kinder, noch die Kinder ihre Eltern lediglich "bespaßen" – es gilt, die Beziehung mit Inhalten zu füllen.



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Dr. Stephan Heinrich Nolte

Kinder- und Jugendarzt
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Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2020; 91 (2) Seite 114-115