Kindergärten und Kitas lange geschlossen, Schulbesuch wieder für alle - irgendwann. Es wären andere Optionen für Kinder und ihre Eltern denkbar. Wenn es um Kinder geht, sollten auch Kinderärzte gefragt werden, appelliert Professor Rüdiger von Kries.
Die COVID-19-Epidemie ist eine Naturkatastrophe, die weitere Menschenleben fordern wird. Im Gegensatz zu anderen Naturkatastrophen, wie Erdbeben oder die Seuchen der Vergangenheit, war diese vorhersehbar und ermöglichte Maßnahmen, um die Zahl der Opfer zu minimieren, aber nicht zu verhindern. Wenn in absehbarer Zeit weder ein Medikament noch ein Impfstoff verfügbar sein wird, ist die einzige Option die Bereitstellung ausreichender Plätze für die Behandlung.
Mit viel Engagement der Kliniken und der erstaunlichen Bereitschaft der Bürger, den Ausnahmezustand zu akzeptieren, waren wir in Deutschland glänzend vorbereitet. Behandlungsplätze wurden in großer Zahl bereitgestellt, sodass derzeit sehr viel mehr Patienten aufgenommen werden könnten. Die Reproduktionsrate des Erregers war bereits vor Ostern 1 oder knapp darüber. Eine Exit-Strategie aus dem Ausnahmezustand wurde möglich – und vertagt auf die Woche nach Ostern. Präsentiert wurden dann nur sehr vorsichtige Lockerungen für Kinder. Im Wesentlichen ein "Weiter so", bis denn nun irgendwann in 1 bis 2 Jahren ein Impfstoff kommt. Hoffentlich hat der nicht auch Nebenwirkungen, wie z. B. Narkolepsie –, wir erinnern an den Impfstoff gegen die "Schweinegrippe".
Kindergärten bleiben weiter geschlossen, über Spielplatzöffnungen konnte ich nichts finden, Schulbesuch für alle irgendwann. Dabei wird es zuhause eng – Homeoffice ist angesagt. Das mag für Kinder wohlhabender Eltern mit Haus, Garten oder geräumiger Altbauwohnung erträglich sein, für weniger privilegierte Familien weniger. Wenn dort die Eltern wegen Kurzarbeit oder weil sie gar nicht mehr am Erwerbsleben teilhaben auch die finanzielle Belastung spüren, belastet das die Familienstimmung. Auch die besten Hilfsmaßnahmen werden bei geringen finanziellen Reserven nicht ausreichen. Der nahende Sommer gab im April schon einen Vorgeschmack, mit Temperaturen um 30 °C werden wir rechnen müssen. Ist eine Öffnung der Spielplätze geplant, wann öffnen die Schwimmbäder? Nach welchen Kriterien wird darüber entschieden?
Warum dieses düstere Szenario? Der Erreger wird nicht freundlicherweise seine Reproduktionsrate herunterfahren. Wenn er sich derzeit weniger verbreitet, dann weil wir im Ausnahmezustand leben. Ein Weg aus dem Ausnahmezustand führt nur über die Herdenprotektion: 50 – 60 Millionen Menschen in Deutschland müssen sich infizieren und so immun werden.
Das einzig Gute an dem COVID-19-Erreger ist es, dass Kinder und junge Erwachsene selten schwer erkranken. Da überrascht es, dass die Politik die Option eines kontrollierten Aufbaus der Herdenprotektion zunächst bei Kindern und deren Eltern gar nicht diskutiert. Den Kindern stünde nach einer natürlichen Durchimmunisierung ein weitgehend unbeschwerter Sommer bevor, sie könnten die Großeltern wieder sehen und ihre Bildungschancen wahrnehmen. Da der Erreger seine Reproduktionsrate auch im Herbst nicht herunterfahren wird, werden sonst die Einschränkungen für Kinder auch im Laufe des Jahres nicht gänzlich gelockert werden können. Eine natürliche Immunisierung für Kinder im realen Leben ist nicht trivial und viele Anstrengungen werden nötig sein, um vulnerable Kinder und Eltern zu schützen. Dass darüber von Politikern offenbar nicht nachgedacht wird und es keine öffentliche Diskussion dazu gibt, ist befremdlich. Auch die liberale Medienlandschaft, die sonst bei der kleinsten politischen Inkorrektheit schäumt, hält sich bedeckt.
Der Präsident des RKI und oberste Politikberater ist Veterinär. Wenn es um Kinder geht, sollten auch Kinderärzte gefragt werden.
Prof. Dr. med. Rüdiger von Kries, München
Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2020; 91 (3) Seite 153