Der Zugang zum SPZ ist mit der Überweisung vom Vertragsarzt bewusst ein hochschwelliger Prozess. Doch welche Kinder werden mit welchen Krankheiten vorwiegend in ein SPZ überwiesen und dort behandelt? Hat jedes SPZ ein gleiches Spektrum an erkrankten Kindern oder unterscheiden sich die SPZ untereinander? Die folgende aktuelle Analyse gibt darüber für jeden sozialpädiatrisch tätigen Arzt interessante und auch überraschende Aufschlüsse.

Der niedergelassene Kinder- und Jugendarzt überweist Patienten zur Mitbehandlung an ein SPZ, die wegen Art, Schwere und Dauer ihrer Erkrankung ein ärztlich geleitetes, multiprofessionell aufgestelltes und interdisziplinär arbeitendes Behandlungsteam benötigen. Dabei hat sich das Spektrum der in SPZ behandelten Kinder innerhalb der letzten 30 Jahre deutlich erweitert.

Waren es anfänglich vorwiegend Kinder mit geistigen und körperlichen Behinderungen, so sind in den darauffolgenden Jahren immer mehr auch Kinder mit Auffälligkeiten in ihrer Entwicklung in den SPZ vorgestellt worden. Das Thema Entwicklung ist auch der Markenkern unseres gesamten Fachgebietes in der Pädiatrie. Die meisten anderen Facharztbezeichnungen definieren sich über Organsysteme. Die Kinder- und Jugendärzte sind indessen für den Entwicklungszeitraum von 0 bis 18 Jahren prädestiniert.

Neue gesellschaftliche Herausforderungen

Möglicherweise standen die medizinischen Aspekte der Entwicklung des Kindes in den früheren Jahren nicht so im Fokus der Pädiatrie, da andere Krankheitsbilder, wie akute Infektionserkrankungen, den Arbeitsalltag der Kinder- und Jugendärzte bestimmten. Aber schon vor 50 Jahren wurde die Daseinsberechtigung der Entwicklungs- und Sozialpädiatrie erkannt und in entsprechenden medizinischen Versorgungseinrichtungen etabliert, wie z. B. in München (Prof. Hellbrügge) und in Erfurt (Prof. Patzer). Die gesellschaftlichen Herausforderungen in den vergangenen Jahrzehnten haben das Morbiditätsspektrum und deren Behandlungsnotwendigkeiten spürbar verändert. Stichwort hierfür wären die "neuen Morbiditäten."

Wie stellt sich dies nun im Diagnosespektrum der Kinder, die in den SPZ behandelt werden, dar? Als Quelle hierfür dienen die Ergebnisse der Strukturdatenerhebung in den SPZ, die von der BAG-SPZ, beginnend 2001, in 3- bis 4-jährigen Abständen durchgeführt und inhaltlich immer weiterentwickelt wurden. Speziell zum Diagnosespektrum kann man auf Daten aus 2011, 2014 und 2018 zurückgreifen. Hierfür wurden die ICD-Codes abgefragt, die von den Praxisverwaltungssystemen im 4. Quartal des jeweiligen Jahres für die zu diesem Zeitpunkt behandelten Patienten vergeben worden sind. Anfänglich hatten wir uns auf die TOP-10-Liste der meistvergebenen Diagnosen in SPZ fokussiert, haben aber dabei übersehen, dass die SPZ insbesondere durch ihre Multiprofessionalität und die interdisziplinäre Zusammenarbeit bestens geeignet sind, Patienten mit seltenen Diagnosen zu betreuen und deren Auswirkung auf die körperliche und geistige Entwicklung adäquat zu behandeln. Hierbei ist es für die Patienten und deren Eltern besonders wichtig, für Fragen der Alltagsbewältigung fachlich versierte Ansprechpartner vorzufinden.

Häufigste Diagnosen: Entwicklungsstörungen

Für die letzte Strukturdatenerhebung konnten die Daten aus dem 4. Quartal 2018 zugrunde gelegt werden. Den Teilbereich "Diagnosehäufigkeit" beantworteten 93 der insgesamt 156 SPZ, sodass eine relativ große Datenmenge gesammelt werden konnte.

Die mit Abstand am häufigsten vergebenen Diagnosen waren: die umschriebene Entwicklungsstörung des Sprechens und der Sprache (F80.-), die der motorischen Funktionen (F82.-) sowie die kombinierten umschriebenen Entwicklungsstörungen (F83.-). Es folgen das ADS (F90.-) sowie die umschriebenen Entwicklungsstörungen der schulischen Fertigkeiten (F81.-) und die anderen Verhaltens- und emotionalen Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend (F98.-). Auf Platz 7 bis 9 bezüglich der Häufigkeit des Auftretens folgen die Intelligenzminderung leichten Grades (F70.0), die Epilepsie (G40.-) und die Zustände nach Frühgeburt (P07.-).

Im Vergleich zu der Vorabfrage vom 4. Quartal 2014 rückten die emotionalen Störungen des Kindesalters (F93.-) von Platz 11 auf Platz 10 und die tiefgreifenden Entwicklungsstörungen (F84.-) von Platz 13 auf Platz 11 vor. Demgegenüber wurde die Diagnose Infantile Zerebralparese (G80.-) von Platz 10 auf Platz 12 verdrängt.

Neben den TOP 10 interessierten uns aber – wie bereits erläutert – die Kinder mit seltenen Diagnosen und wie häufig sie und ihre Familien den Weg in das SPZ gefunden haben. Hierbei konnten wir feststellen, dass mindestens 10 % aller Kinder, die in den SPZ betreut wurden, eine seltene Diagnose haben. Der immense Fortschritt in der genetischen Diagnostik bei der Ätiologie einer Entwicklungsstörung spielt hier sicher eine große Rolle.

Weiterhin konnten wir aus den Daten analysieren, wie sich die Diagnosen auf die einzelnen SPZ verteilen. Spannend war hier die Frage, welche Kinder mit welchen Diagnosen sind in jedem SPZ in ähnlicher Häufigkeit anzutreffen und welche Diagnosen werden sehr heterogen im Vergleich der SPZ untereinander vergeben. Hierbei haben wir uns einerseits die Diagnosen aus dem neurologisch-somatischen Bereich bezüglich der Häufigkeit der Vergabe und deren Streuung angesehen. Des Weiteren haben wir die gleichen Parameter bei den Diagnosen des F-Kapitels des ICD-10-Kataloges untersucht.

Diagnosehäufigkeiten variieren stark

Bei den neurologisch-somatischen Diagnosen streut am meisten die Vergabe der Diagnose Hörverlust durch Schallleitungs- oder Schallempfindungsstörung (H90.-). Dies lässt sich relativ einfach begründen, da es einige SPZ mit pädaudiologischem Schwerpunkt gibt und dort diese Diagnose natürlich viel häufiger gestellt wird. Die Diagnose hereditäre Ataxie (G11.-) und die sonstigen degenerativen Krankheiten des Nervensystems (G31.-) sind seltene kinderneurologische Erkrankungen, die möglicherweise in SPZ mit einem stärkeren neuropädiatrischen Schwerpunkt angebunden sind. Die Behandlung der Migräne (G34.-) und der sonstigen Kopfschmerzsyndrome (G44.-) waren schon in der Vergangenheit nicht bei allen SPZ schwerpunktmäßig vertreten, was möglicherweise durch regionale Besonderheiten zu erklären ist und zudem die Behandlung auch von niedergelassenen Kinderärzten übernommen wird.

Bei der Analyse der Diagnosen aus dem Kapitel F – Psychische und Verhaltensstörungen – fällt die größte Heterogenität bei der Diagnosevergabe bezüglich der Reaktion auf schwere Belastung und Anpassungsstörungen (F43.-) auf. Insgesamt wird die Diagnose häufig vergeben (Platz 13 bezüglich der Häufigkeitsskala). Die Häufigkeit der Vergabe ist aber von SPZ zu SPZ sehr unterschiedlich. Dieses Phänomen trifft auch auf die F45.- (somatoforme Störungen) zu, wobei diese Diagnose bundesweit deutlich weniger vergeben wird (Platz 38).

Bei den Intelligenzstörungen wird besonders die F79.- (nicht näher bezeichnete Intelligenzminderung) und die F74.- (dissoziierte Intelligenz) sehr heterogen vergeben. Einer der Gründe könnte darin liegen, dass nicht in jedem SPZ die entsprechend ausreichende personelle Ressource vorhanden ist, um die zur Diagnosevergabe notwendigen standardisierten Intelligenztests in vollem Umfang durchzuführen.

Im Unterkapitel Verhaltens- und emotionale Störung mit Beginn in der Kindheit und Jugend (F9) fällt die weiteste Streuung auf die F91.- – Störung des Sozialverhaltens. Diese Diagnose wird ebenfalls häufig vergeben (Platz 16), aber eben auch sehr heterogen. Hier spielen möglicherweise die diagnostische Unschärfe und auch der subjektive Faktor der Beurteiler eine Rolle. Weniger häufig werden die Tic-Störungen vergeben (Platz 27), aber die Vergabe dieser Diagnose unterscheidet sich ebenfalls sehr stark von SPZ zu SPZ.

Seltene Erkrankungen gewinnen an Bedeutung

Als Fazit der Analyse bezüglich der Vergabe von ICD-Diagnosen in den SPZ ist Folgendes festzuhalten:

Die am meisten vergebenen Diagnosen Codes entsprechen dem Kapitel F8 – Entwicklungsstörungen. Aber auch das ADS (F90.-) und andere Verhaltens- und emotionale Störungen (F98.-) werden sehr viel in den SPZ behandelt. Von den neuropädiatrischen Erkrankungen werden die ICP (G80.0), die Epilepsie (G40.-) und die Intelligenzminderung leichten Grades (F70.0) häufig in SPZ verschlüsselt, aber von den umschriebenen Entwicklungsstörungen deutlich zahlenmäßig übertroffen. Die Autismus-Spektrums-Störung (F84.-) spielt eine zunehmende Rolle. Des Weiteren ist für Kinder und Jugendliche mit seltenen Erkrankungen das SPZ ein wichtiger Ansprechpartner.

Die Heterogenität bei der Vergabe einzelner Diagnosen im Vergleich der SPZ untereinander betrifft aus dem F-Kapitel insbesondere die ICD-10-Codes, die weiche bzw. beschreibende Diagnose-Indikatoren vorgeben und keine konkreten biologischen Marker oder Testergebnisse abfordern. Deswegen sollte diese Analyse aber unbedingt auch Ansporn sein, im eigenen SPZ die Diagnosevergabe nach dem ICD-10-Code kritisch zu evaluieren.

Vielleicht werden die Ergebnisse der nächsten Online-Strukturdatenerhebung für die Zahlen des 4. Quartals 2022, die dann im Januar/Februar 2023 abgefragt werden, wieder neue und interessante Erkenntnisse bringen. Voraussetzung hierfür ist eine Beteiligung von vielen SPZ. Es wäre sehr zu wünschen, dass sich bei der neuen Umfrage mehr als 93 SPZ beteiligen. Hierfür im Voraus schon einmal vielen Dank.



Korrespondenzadresse
Dr. med. Christoph Kretzschmar
Sprecher des QZ Strukturen im ZQ AK der BAG-SPZ
Städtisches Klinikum Dresden
Industriestraße 40
01129 Dresden

Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2022; 93 (5) Seite 382-384