"Laut jammern über die derzeit überlaufenen Kinderarztpraxen und -kliniken fällt mir schwer, sind wir doch selbst Teil des Problems", sagt Kinderarzt Dr. Stephan H. Nolte und schildert seine Sicht auf die aktuelle Situation und die vielen Faktoren, die dazu geführt haben.
"Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen" so die Definition Kants aus dem Jahre 1784.
Laut jammern über die derzeit überlaufenen Kinderarztpraxen und -kliniken fällt mir schwer, sind wir doch selbst Teil des Problems: Durch unsere lückenhafte vorausschauende Beratung, unsere mangelnde Präsenz, die auch von uns geschürte Medizingläubigkeit und -abhängigkeit, die von uns mitgetragene Medikalisierung der Gesellschaft und die Übertherapie. Das alles führt zu dem eingangs zitierten "Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen", zu durchaus gewollten Abhängigkeiten, die zur Verunsicherung der Menschen, eben auch der Eltern unserer Kinder führt. Dadurch sind die Praxen überlaufen, die Kinderkliniken fehlbelegt und unseren Kernaufgaben werden wir vor ständiger Mangelverwaltung nicht mehr gerecht. Dazu kommt der viele bürokratische Unfug, die unsere Funktion als "Gatekeeper", die uns ja so wichtig und unentbehrlich macht, mit sich bringt. Und dann haben wir noch die Pandemie der Angst, die die Menschen unmündig wie Kleinkinder und vollkommen abhängig von den Meinungen und daraus resultierenden Vorschriften vermeintlicher Experten gemacht hat.
Wenn Eltern mir sagten: "Und dann mussten wir in die Klinik ...", pflege ich nachzufragen: "Mussten Sie oder sind Sie gegangen?". Das ist eine wichtige Unterscheidung. Das größte, aber aus verständlichen Gründen nicht offen ausgesprochene Problem ist derzeit nämlich die mangelnde Präsenz der Haus- und Kinderärzte, die früher rund um die Uhr erreichbar waren, jetzt immer restriktivere Sprechzeiten haben und de facto sowieso nicht erreichbar sind: Entweder es ist besetzt, es geht keiner dran oder das Band läuft – versuchen Sie selbst mal, einen Kollegen zu erreichen, von dem sie gerade keine "Geheimnummer" haben! Freitagnachmittags hat früher der Bär getobt – jetzt kommen die Leute schon am Donnerstag, wenn das Kind seit fünf Minuten Fieber hat, weil ja das Wochenende ausbricht …
Freitags nach 12 Uhr ist kein Arzt mehr erreichbar. Bei mir war das Telefon freitagsnachmittags in den letzten Jahren im Gegensatz zu früher zumeist still, weil niemand überhaupt mehr damit gerechnet hat, dass ein Arzt noch erreichbar ist. Ich habe nur sehr selten Kinder mit Atemwegsinfektionen allgemein eingewiesen. Jetzt landet (wieder) jeder Pseudokrupp, jeder Fieberkrampf in der Klinik, weil der Notarzt gerufen wird oder der Rettungswagen. Eine Sauerstoffsättigung von 91 % ist schon Einweisungsgrund. Nicht selten wird bei einem hoch fiebernden Säugling der Rettungswagen gerufen. Den Kinder-/Hausarzt kann man ja nicht mehr erreichen. Unter anderem haben die Ärzte völlig vergessen, dass der freie Mittwochnachmittag früher die Kompensation für die Samstagssprechstunde war. Jetzt ist der Freitag der frühere Samstag, und der Donnerstag wird zum Freitag. Wir machen dadurch eine blödsinnige Wochenendmedizin.
Ich habe in Marburg vor 30 Jahren einen Kindernotdienst im Vertreterkreis organisiert, sodass jeden Samstag, jeden Sonntag von 10 – 13 Uhr einer von uns Sprechstunde hatte. Da konnte man freitags die Leute bei sprichwörtlich "seit 5 Minuten Fieber" damit vertrösten, dass morgen Dr. XY Sprechstunde habe, wenn Sie am Wochenende Sorgen haben, gehen Sie dahin. Und wir waren in diesen Zeiten telefonisch erreichbar; denn über die Hälfte aller auftretenden Fragen lässt sich telefonisch klären oder aufschieben, und erspart Eltern und Kind unnötige Wege und uns übervolle Wartezimmer.
Diese Form von Sprechstunde ist jetzt nicht mehr erlaubt und wurde zugunsten eines von der kassenärztlichen Vereinigung organisierten pädiatrischen Bereitschaftsdienstes ersetzt, der hier auch "nur" von 9 – 18 Uhr da ist, den Rest soll die Klinik machen. Die nimmt im Zweifelsfall stationär auf, meist nach stundenlangen Wartezeiten, oder verlegt wegen Überfüllung in eine andere Kinderklinik. Die jetzigen von den kassenärztlichen Vereinigungen organisierten pädiatrischen Bereitschaftsdienste sind telefonisch gar nicht erreichbar, man muss also in personam hingehen, auch wenn es – für den Fachmann – nur eine Kleinigkeit ist, wie Rotznase, Madenwürmer, Husten, Läuse oder Dellwarzen. Gefeiert wurde das als großer Fortschritt mit halbseitigen Artikeln in der lokalen Presse.
Es sind also hausgemachte und keine wirklichen Probleme, mit denen wir kämpfen, auch wenn die Medikamentenverknappung arg ist, die ja gerade die Kinder trifft: Paracetamol und Amoxycillin braucht man nun wirklich gelegentlich. Für die Pharmaindustrie ist es jedoch völlig uninteressant, wenn mit 5 Tagen Amoxycillin für 15 Euro die Pneumonie geheilt wird, denn verdient wird an Dauerpatienten, an den "Chronikern" mit möglichst lebenslangen Dauermedikationen.
Unser Bildungssystem versagt: Gesundheitserziehung und -bildung sind überhaupt nicht Teil der Schulausbildung. Wir haben versagt, weil wir nicht schon – möglichst pränatal – auf das hinweisen, was Eltern erwartet. Vorausschauende Beratung ist das Wichtigste, und die haben wir nicht auf dem Schirm.
Bei der U5 sollte beispielsweise auf das demnächst als erste fieberhafte Erkrankung wohl auftretende Dreitagefieber hingewiesen werden, und bei Beginn einer institutionellen Betreuung auf die zu erwartende Infekthäufung. Dann erwischt es die jungen Eltern nicht so unvorbereitet. Wir müssen uns an die eigene Nase packen und nicht über die ahnungslosen oder als unverschämt empfundenen Eltern ärgern. Dazu sind oder waren wir doch (fast) alle selbst Eltern genug!
Dazu gehört, dass wir Schmerzen und Unruhe, wenn nötig, behandeln, aber nicht das Fieber an sich. Da Säuglinge und Kleinkinder nun mal nicht sagen können, wo der Schuh drückt, ist Unruhe oft einziges Symptom. Die Gabe von einem Schmerzmittel ist differenzialdiagnostisch auch wichtig, weil was Schlimmes davon nicht weggeht, und wenn es dem Kind besser geht, die Unruhe und Unsicherheit der Eltern nachlässt. Derlei Banalitäten sollten gebetsmühlenartig bei jeder "U" im Sinne präventiver Beratung wiederholt werden. Denn es ist der Sinn der Vorsorgen, Kinder zu sehen, wenn es ihnen gut geht, und vorbeugend tätig zu werden, wenn es mal anders kommt. Am Umgang mit den Alltäglichkeiten, nicht in heroischen Taten, zeigt sich der verantwortungsvolle Arzt, selbst wenn er sie für "banal" hält. Und dazu ist eine gewisse Präsenz unumgänglich.
Dr. Stephan Heinrich Nolte
Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2023; 94 (2) Seite 94-95