Psychosozialer Unterstützungsbedarf von Familien mit 0- bis 3-jährigen Kindern in der Pandemie.

Deutsche und internationale Längsschnittstudien der letzten Jahrzehnte belegen eindrucksvoll den potenziell schädlichen Einfluss früher psychosozialer Belastungen auf die kindliche körperliche und seelische Gesundheit sowie auf die kognitive und sozial-emotionale Entwicklung, welche sich zum Teil über die gesamte Lebensspanne hinweg auswirken [1 – 4].

In Zeiten gesellschaftlich übergreifender Krisen, wie der COVID-19-Pandemie, sind psychosoziale Belastungen verstärkt zu erwarten [5]. Junge Familien sind in diesem Kontext hoch vulnerabel: Die ersten Lebensjahre des Kindes beanspruchen Eltern stark aufgrund der hohen Abhängigkeit des Kindes in der Versorgung und Beziehung. Gleichzeitig sind die Widerstandskräfte bei Säuglingen/Kleinkindern gegenüber negativen Umwelteinflüssen (z. B. Elternstress) noch nicht stark ausgeprägt [6]. Insgesamt gelten 0 – 3 Jahre alte Kinder daher als besondere Risikogruppe für die möglichen negativen Auswirkungen psychosozialer Belastungen, die im Extremfall in einer Vernachlässigung oder Misshandlung gipfeln können [7].

Anders als bei älteren Kindern ist bei 0- bis 3-Jährigen eher davon auszugehen, dass deren Belastung während der Pandemie weniger direkt von tagespolitischen Entscheidungen, wie den Schließungen/ Einschränkungen und Veränderungen in den pädagogischen Einrichtungen o. ä., abhängt, sondern vor allem von der assoziierten Belastung der Eltern. Diese wird wiederum durch Rahmenbedingungen z. B. finanzielle Sorgen, Arbeitslosigkeit/ Arbeitsplatzgefährdung, durch erhöhte Fürsorgeanforderungen beim Kind (z. B. bei Vorliegen von Regulations- und Verhaltensproblemen) oder einen eingeschränkten Zugang zu familiären Unterstützungsangeboten beeinflusst. Die bisherige Studienlage zur Auswirkung pandemiespezifischer Belastungsfaktoren auf die Kindergesundheit fokussiert vor allem auf Kinder ab dem Kindergartenalter oder bezieht jüngere Kinder lediglich mit ein. Spezifische Befunde zur psychosozialen Belastungssituation in Familien mit Säuglingen und Kleinkindern liegen bisher kaum vor. Erste Ergebnisse deuten aber darauf hin, dass die durch die COVID-19-Pandemie ausgelösten Existenznöte und -sorgen Familien mit jungen Kindern besonders betreffen [8].

Psychosoziale Hilfebedarfe erkennen

Die psychosozialen Belastungen, die aufgrund der COVID-19-Pandemie bestehen, haben das Potenzial, die frühkindliche Entwicklung negativ zu beeinflussen. Eine zeitnahe, systematische und zuverlässige Identifikation von Familien mit psychosozialem Unterstützungsbedarf ist daher dringend indiziert, um frühzeitig geeignete Hilfsangebote einleiten zu können und damit negativen unmittelbaren wie mittelbaren Auswirkungen auf die Kindergesundheit vorzubeugen.

Niedergelassene Pädiater bilden traditionell durch den frühen und regelmäßigen Zugang zu Familien im Rahmen der Vorsorgeuntersuchungen eine besonders geeignete Berufsgruppe, um psychosoziale Hilfebedarfe zu erkennen [9] und stellen so eine wichtige Schnittstelle zu weiterführenden Unterstützungsangeboten (z. B. Frühe Hilfen) dar. Das bayernweit etablierte interdisziplinäre "KoKi – Netzwerk frühe Kindheit" unterstützt junge Familien insbesondere in belasteten Lebenslagen. Sowohl Eltern als auch Kinderärzte – die über die Vorsorgeuntersuchungen im engen Kontakt zu den Familien stehen – können sich an die KoKis wenden, welche u. a. Unterstützungsangebote der "Frühen Hilfen" vermitteln. Dieser niederschwellige Zugang zu Unterstützungsangeboten ist während gesellschaftlichen Krisenzeiten wie der aktuellen Pandemie relevanter denn je.

"CoronabaBY"-Studie im Fokus

Vor diesem Hintergrund hat der Lehrstuhl für Sozialpädiatrie der TU München gemeinsam mit dem bayerischen BVKJ-Landesverband sowie PaedNetz Bayern und der BVKJ-Service GmbH die bayernweite "CoronabaBY"-Studie initiiert, in der 100 Praxen und ca. 5.000 Familien mit Kindern (0 – 3 Jahre) untersucht werden sollen.

Die vom Bayerischen Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales geförderte Studie verfolgt dabei einen innovativen Ansatz: Sämtliche Studienbelange (Einladung und Aufklärung der Teilnehmer), die Studienintervention sowie auch die Befragung der Familien selbst laufen über die App "Mein Kinder- und Jugendarzt", sodass die behandelnden Pädiater praktisch keinen organisatorischen Aufwand mit der Studie haben. Die Einladung zur Studie sowie die erste Befragung sind gekoppelt an die automatische Erinnerung zur Vorsorgeuntersuchung. Eine zweite Befragung erfolgt 3 Monate später, die dritte und letzte Befragung erfolgt mit der Erinnerung zur nächsten Vorsorgeuntersuchung.

Folgende Zielwerte stehen im Fokus:

1. Die psychosoziale Belastungssituation und Inanspruchnahme von Unterstützungsangeboten bei Familien mit Kindern von 0 – 3 Jahren während der COVID-19-Pandemie.

In einer Querschnittserhebung (erster Befragungszeitpunkt aller Teilnehmer) wird die psychosoziale Belastung der Familien während der COVID-19-Pandemie erfasst. Dazu werden alle Eltern bezüglich ihres Stress-/Belastungserlebens (Elternstress, Angst- und Depressionssymptome, pandemiespezifische Belastungsfaktoren) im Alltag sowie zu Regulations- bzw. emotionalen und Verhaltensproblemen ihres Kindes durch das Studienteam befragt. Weiterhin wird erfragt, ob und inwieweit die KoKi und die Frühen Hilfen bekannt sind und von den Familien in Anspruch genommen werden.

2. Die mögliche Steigerung der Zugangsrate zu Frühen Hilfen durch ein spezifisches App-basiertes "Frühe-Hilfen-Modul" für Eltern und Kinderärzte.

Im Rahmen einer randomisierten kontrollierten Studie mit Wartekontrollgruppe soll ein "Frühe-Hilfen-Modul" auf seine Wirksamkeit hin evaluiert werden. Die Interventionsgruppe erhält das Modul, welches das systematische Erkennen von psychosozialen Belastungsfaktoren von Familien mit Kindern zwischen 0 und 3 Jahren durch die Pädiater beinhaltet (anhand einer Neuauflage des Pädiatrischen Anhaltsbogens (U3 – U6) [10]) sowie gezielte Informationen zu Frühen Hilfen für Eltern und Pädiater bereitstellt. Diese Informationen erhalten die Eltern direkt über die App, in der sie mit wenigen Klicks unmittelbar an ihre KoKi oder Erziehungsberatungsstelle verwiesen werden. Für die Kinder- und Jugendärzte gibt es ebenfalls aufbereitete Informationen und Anlaufstellen über die PraxisApp-Verwaltung.

3. Der Längsschnittverlauf der psychosozialen Belastungssituation und der Inanspruchnahme von Unterstützungsangeboten der untersuchten Familien (Follow-Up nach 4 – 12 Monaten).

Die psychosoziale Belastung wird zum ersten und dritten Befragungszeitpunkt, die Inanspruchnahme der Frühen Hilfen zu allen 3 Befragungszeitpunkten abgefragt, so dass sich ein Längsschnittverlauf dieser Zielgrößen für die Interventions- und Kontrollgruppe abbilden lässt.

Über die CoronabaBY-Studie
Studienbeginn war im Januar 2021. Bislang haben über 70 Pädiater und mehr als 1.000 Familien an der Befragung teilgenommen. Es besteht weiterhin die Möglichkeit für Pädiater und damit auch für ihre Patientenfamilien, an der Studie teilzunehmen. Voraussetzung dafür ist die Nutzung der App "Mein Kinder- und Jugendarzt" sowie eine Niederlassung in Bayern.

Interessenten melden sich gerne unter: lehrstuhl.sozialpaediatrie@med.tum.de

Literatur
[1] Werner EE (1993) Risk, resilience, and recovery: Perspectives from the Kauai Longitudinal Study. Dev Psychopathol 5: 503 – 515
[2] Laucht M, Esser G, Schmid MH (1997) Developmental Outcome of Infants Born with Biological and Psychosocial Risks. J Child Psychol Psychiatr 38 (7): 843 – 854
[3] Laucht M, Schmidt MH, Esser G (2002) Motorische, kognitive und sozial-emotionale Entwicklung von 11-Jährigen mit frühkindlichen Risikobelastungen: späte Folgen. Z Kinder Jugendpsychiatr 30 (1): 5 – 19
[4] Egle UT, Franz M, Joraschky P, Lampe A, Seiffge-Krenke I et al. (2016) Gesundheitliche Langzeitfolgen psychosozialer Belastungen in der Kindheit – ein Update. Bundesgesundheitsbl Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz 59: 1247 – 1254
5] Panda PK, Gupta J, Chowdhury SR, Kumar R, Meena AK et al. (2021) Psychological and Behavioral Impact of Lockdown and Quarantine Measures for COVID-19 Pandemic on Children, Adolescents and Caregivers: A Systematic Review and Meta-Analysis. J Trop Pediatr 29; 67 (1): fmaa122
[6] Schlack HG (2009) Sozialpädiatrie: Eine Standortbestimmung. In: Schlack HG, von Kries R, Thyen U (Hrsg.), Sozialpädiatrie. Gesundheitswissenschaft und pädiatrischer Alltag. Springer, Berlin, Heidelberg, S. 1 – 8
[7] Münder J, Mutke B, Schone R (2000) Kindeswohl zwischen Jugendhilfe und Justiz. Votum-Verlag, Münster
[8] Huebener M, Waights S, Spiess CK, Siegel NA, Wagner GG (2021) Parental well-being in times of Covid-19 in Germany. Rev Econ Household 19: 91 – 122
[9] Hayutin LG, Reed-Knight B, Blount RL, Lewis J, McCormick ML (2009) Increasing Parent–Pediatrician Communication about Children’s Psychosocial Problems. J Pediatr Psychol 34 (10): 1155 – 1164
[10] Mall V, Friedmann A (2016) Der Pädiatrische Anhaltsbogen zur Einschätzung von psychosozialem Unterstützungsbedarf (U3 – U6). In: Mall V, Friedmann A (Hrsg.) Frühe Hilfen in der Pädiatrie. Bedarf erkennen, intervenieren, vernetzen. Springer, Heidelberg, S. 125 – 148

Autoren:

Anna Friedmann, Ina Nehring, Catherine Büchel, Volker Mall für die Arbeitsgruppe „Junge Familien und Corona“ (Stefan Eber, Uta Behrends, Otto Laub, Dominik Ewald)


Korrespondenzadresse
Dr. rer. biol. hum. Ina Nehring
Wissenschaftliche Mitarbeiterin
Lehrstuhl für Sozialpädiatrie
Technische Universität München
Heiglhofstraße 65
81377 München

Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2021; 92 (5) Seite 179-180