Anja Röhl. 228 Seiten, Psychosozial-Verlag, Gießen 2021. ISBN-13: 978-3-8379-3117-4; 24,90 Euro

Die grauenhaften Erziehungsmethoden während des Nationalsozialismus in den sog. Kinder- und Jugendlichen-KZs, die Quälereien in Kinderheimen für Waisen und „verhaltensauffällige“ Kinder in Heimen der DDR und der jungen Bundesrepublik mit brachialen Eingangs-Untersuchungen (z. B. regelmäßigen Pneumencephalographien!), brutalen Bestrafungen und der Erprobung von Medikamenten sind mittlerweile bekannt und werden in mehreren Arbeitsgruppen, z. B. von Instituten für Geschichte und Ethik in der Medizin und von ehemaligen Heimbetreibern, z. B. evangelischen Landeskirchen, wissenschaftlich bearbeitet.

Ich bin von der Schriftleitung der ­Kipra gebeten worden, eine Rezension des neu erschienenen Buches von Anja Röhl mit den Berichten von 23 „Verschickungskindern“ zu schreiben. Zwischen Mitte der 50er- bis Ende der 70er-Jahre wurden mehrere 1000 Kinder z. B. aufgrund von Unterernährung, chronisch-rezidivierenden Infekten, Tbc-Konversion, Überlastung der Eltern oder angeblicher Schulunreife von Kinderärztinnen und -ärzten in eines der damals weit verbreiteten Kindererholungsheime verschickt. Man nannte das „Kinder- und Jugendgenesungsfürsorge“, die Häuser waren zwischen Nordsee und Gebirge gelegen, die Aufenthalte dauerten 3 Wochen bis mehrere Monate und die Kinder waren zwischen 4 und 12 Jahre alt.

Auch meine 2 Schwestern sind gemeinsam in solch einem Heim im Allgäu gewesen und können einige der in diesem Buch geschilderten Begebenheiten bestätigen, z. B. die fast militärische Ordnung beim Essen, Waschen und Zubettgehen, die Pflicht zum morgendlichen Toilettengang im Gänsemarsch und die gestrenge Heimleiterin, ohne dass sie darunter in ihrem weiteren Leben gelitten haben.

Alle hier vorgelegten Berichte sind bedrückend, die Kinder wurden abrupt einem gefühlskalten, angstmachenden Regiment unterworfen, immer wieder wird über das Ekelgefühl beim Essen von undefinierbaren Suppen und Breien berichtet, über willkürliche Schläge und andere Strafen ohne erkennbaren Grund, mangelnde Spielmöglichkeiten und eine strenge Zensur beim Verfassen von Briefen. Am schlimmsten waren aber die öffentlichen Beschämungen, z. B. nach nächt­lichem Einnässen, bei plötzlichem Harndrang oder unbeabsichtigten Störungen der Ordnung. Es werden auch schwerwiegende Vergehen berichtet, z. B. versuchte sexuelle Übergriffe und fragliche Bei­mischung von Medikamenten.

In mehreren Berichten werden Probleme im weiteren Leben der Betroffenen mit den negativen Erfahrungen in den Wochen des Heimaufenthaltes in Verbindung gebracht, z. B. der Ekel vor bestimmten Nahrungsmitteln, Angst vor Dunkelheit oder Kontaktprobleme mit anderen Menschen. Es kommt aber auch zum Ausdruck, dass bereits vor und nach den Verschickungsaufenthalten vielfältige Probleme, z. B. Überlastung der alleinerziehenden Mutter oder beider Eltern, häusliche Gewalt und Vernachlässigung, eine Rolle gespielt haben.

Die Anschuldigungen wiegen schwer, allerdings sollten wir sie auch in einem Gesamtzusammenhang sehen und nicht monokausale Rückschlüsse ziehen.

So ist die 1955 geborene Autorin des Buches keine Unbekannte: Ihr Vater ist der Journalist und frühere Herausgeber der Zeitschrift „Konkret“ Klaus Reiner Röhl. Die Eltern trennten sich, als sie 5 Jahre war – in dieser Zeit war sie mehrfach Ver­schickungskind. Der Vater lebte fortan mit der späteren Terroristin Ulrike Meinhof zusammen, die u. a. mit dem Film „Bambule“ auf das Elend der Heimkinder in Deutschland aufmerksam machte. Zu ihr hatte sie anfangs ein sehr positives Verhältnis, was sie in dem Buch „Die Frau meines Vaters: Erinnerungen an Ulrike“ veröffentlichte. Auch lasteten sie und ihre Schwester dem Vater öffentlich sexuelle Übergriffigkeit an. Seit 2009 beschäftigt sie sich intensiv mit den Verschickungskindern, hat eine großangelegte Rechercheaktion eingeleitet und zusätzlich das Buch „Das Elend der Verschickungskinder. Kindererholungsheime als Orte der Gewalt“ herausgegeben (www.verschickungsheime.de).

Zum anderen sollte man die Thematik in einem historischen Gesamtzusammenhang sehen: Seit Menschengedenken ist Kindern in vielfältiger Form Gewalt angetan worden – man denke an die Beschreibungen der „Schwarzen Pädagogik“ durch Katharina Rutschky und Alice Miller, an das beeindruckende Buch des Kinderarztes Friedrich Manz: „Wenn Babys reden könnten! Was wir aus drei Jahrhunderten Säuglingspflege lernen können“ oder die entlarvende Abrechnung von Gertrud Haarer mit den nationalsozialistischen Erziehungsmethoden ihrer Mutter Johanna in dem Buch „Die deutsche Mutter und ihr letztes Kind“.

Insofern bietet das vorliegende Buch keine wesentlichen neuen Gesichtspunkte: Die ersten 25 Jahre nach Ende des 2. Weltkriegs waren für viele Kinder keine einfache Zeit. Es herrschten die gefühlskalten, autoritären Erziehungsvorstellungen nach dem Motto „Gelobt sei, was hart macht“, viele Erwachsene waren von den Kriegsereignissen langfristig traumatisiert, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Heimen waren schlecht ausgebildet und es fehlte an Geld.

Es ist keine Frage, die Verhältnisse in den Heimen waren aus unserer heutigen Sicht oft schrecklich und dürfen sich auf keinen Fall wiederholen. Aber sind sie der entscheidende Schlüssel für langfristige Lebensprobleme der Betroffenen und müssen zu ihrem Verständnis nicht viele unterschiedliche Faktoren berücksichtigt werden? Auch heute gibt es für Kinder vielfältige potenzielle Belastungen: eine gestörte Familienatmosphäre, frühzeitiger Krippenbesuch, übermäßiger Medienkonsum, Mobbing, Beeinträchtigungen durch die Vorschriften im Rahmen der COVID-19-Pandemie und vor allem für Flüchtlingskinder schwerste belastende Erlebnisse.

Dennoch ist es zu kurz gegriffen, nur einen Faktor herauszupicken und ihn für lebenslange Probleme verantwortlich zu machen. Wir wissen, dass eine stabile Bindung des Kindes vom Beginn seines Lebens an und die Schaffung von Urvertrauen am ehesten einen Schutz vor späteren Lebenskrisen bieten können. In der Nachfolge von Janusz Korczak hat u. a. der bekannte dänische Familientherapeut Jesper Juul (1948 – 2019) die Kompetenzen des Kindes und das partnerschaftlich geprägte Verhältnis zwischen den Eltern und ihrem Kind im Sinne einer „Gleichwürdigkeit“ betont, weder im Sinne einer auf Gehorsam beruhenden autoritären Erziehung noch eines antiautoritären „Laissez faire“.

Mir hat die Aneinanderreihung sich ähnelnder Berichte in dem vorliegenden Buch keine neuen Erkenntnisse gebracht, dennoch sind sie ein bedrückendes Zeitdokument.

Weitere Literatur
Straßburg HM (2018) Bindung und Resilienz und was der Kinderarzt dazu beitragen kann. Monatsschr Kinderheilkd 166: 700-707



Autor
Prof. i. R. Dr. Hans Michael Straßburg, Gerbrunn

Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2022; 93 (1) Seite 62-63