Anna Czimmek. 242 Seiten, 116 Abbildungen, 2015. Peter Zeitler Verlag, München. ISBN 978-3-931428-20-4; 28 Euro

Die ungarische Kinderärztin Emmi Pikler (1902 – 1984) ist bei vielen Kinderärztinnen und Kinderärzten, Physiotherapeutinnen sowie Säuglings- und Kleinkind-Pädagoginnen mit ihren Büchern bekannt, z. B. "Friedliche Babys – zufriedene Mütter", "Laßt mir Zeit" und "Miteinander vertraut werden". Auch kennen viele die Deutsche Pikler Gesellschaft und manche vielleicht auch einen internationalen Pikler Verband.

In dem bereits 2015 erstmals im "Familienverlag" erschienenen Buch "Emmi Pikler – Mehr als eine Kinderärztin" präsentiert darüber hinaus die Ärztin und Pädagogin Dr. med. Anna Czimmek ein wesentlich umfangreicheres Bild vom Leben und Werk dieser beeindruckenden Frau.

Sie wurde in Wien als Kind ungarischer Juden geboren, wuchs in Budapest auf und hatte erste prägende Erfahrungen in der Wiener Universitäts-Kinderklinik unter Clemens von Pirquet. In den 30iger-Jahren war sie in Budapest eine anerkannte Familienärztin, die die Eltern auch aufgrund ihrer Erfahrungen mit den eigenen Kindern beriet. Enge Beziehung bestand zu mehreren Vertreterinnen der Reformpädagogik, u. a. Maria Montessori, Else Gindler, Elfriede Hengstenberg und mehreren Psychoanalytikerinnen.

Emmi Piklers Ehemann, der Mathematiker und Pädagoge György Pikler war wegen seines Einsatzes für die Ideen des Kommunismus von 1936 bis 1945 in ungarischen Gefängnissen. Nach dem 2. Weltkrieg wurde er Leiter des Amtes für Statistik, besonders nach dem Ungarn-Aufstand von 1956 wurde er aber vom sowjethörigen Regime drangsaliert. Die besonders gefahrvolle Zeit nach dem Einmarsch der Deutschen in Ungarn 1944 überstanden Emmi Pikler und ihre Tochter Anna mit viel Geschick und Glück.

Nach 1945 gründete sie in einer Villa in Budapest-Loczy ein Heim, in dem Säuglinge und Kleinkinder, die nicht bei ihren Eltern leben konnten (z. B. bei offener Tbc der Mutter), nach den von ihr festgelegten Kriterien von speziell ausgebildeten Erzieherinnen betreut wurden. Großer Wert wurde auf die subtile Beobachtung der Entwicklung der Kinder unter besonderer Beachtung von freier Bewegung und Spiel gelegt. Weitere Grundprinzipien waren eine klar verständliche Kommunikation in einer strukturierten Umgebung, die geduldige Mithilfe bei Pflegemaßnahmen und die möglichst frühe selbstständige Nahrungsaufnahme. In von der WHO beauftragten Nachuntersuchungen konnten bei den so betreuten Kindern keine Hinweise für Hospitalismus nachgewiesen werden. In vielen Fotografien und Filmen wurden die Entwicklungsschritte der Kinder von der kongenialen Fotografin Marian Reismann dokumentiert.

Das Buch wird ergänzt durch eine umfangreiche Dokumentation der wissenschaftlichen Arbeiten aus dem Institut, mit einer Darstellung der Geschichte des Instituts nach dem Tod seiner Gründerin und einen Aufsatz der französischen Psychologin Myriam David über "den Wert der freien Aktivität des Säuglings für den Aufbau seines Selbst".

Viele der von Emmi Pikler vorgeschlagenen Prinzipien haben sich in den vergangenen Jahrzehnten im Rahmen wissenschaftlicher Studien bestätigt, z. B. die Bedeutung der Rückenlage von Anfang an zur freien Bewegungsförderung der Becken- und Beinmotorik, aber auch zur Vermeidung des plötzlichen Kindstodes, der Wechsel von freiem Spiel und strukturierter Pflege, die klar verständliche Kommunikation mit dem Säugling und die Grundlagen für eine Betreuung von Kleinkindern in Institutionen.

Gerade auch aufgrund der bisher nicht so bekannten persönlichen Biographie der Protagonistin ist dieses Buch für alle, die sich bereits mit Emmi Pikler beschäftigt haben, aber auch für alle, die sich mit der Geschichte der Entwicklungspädiatrie beschäftigen und sich für die Erstellung moderner Betreuungskonzepte für Säuglinge und Kleinkinder interessieren, ein großer Gewinn und kann wärmstens empfohlen werden. Das Buch ist am besten direkt im Herstellungsverlag zu beziehen.

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Autor
Prof. i.R. Dr. Hans Michael Straßburg, Gerbrunn

Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2021; 92 (5) Seite 193