Welche Medizin wollen wir? Jochen Vollmann, 2019, 128 Seiten, Klaus Wagenbach, Berlin. ISBN 978-3-8031-3681-7; 16,00 Euro


"Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt der für mich die Diät beurteilt, usw., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe es nicht nöthig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen."

Mit diesem Kant-Zitat von 1784 leitet der Bochumer Medizinethiker Jochen Vollmann sein schlankes Büchlein mit dem Untertitel: Welche Medizin wollen wir? ein, und macht deutlich, wie sehr Gesundheit und Medizin durch die Säkularisierung transzendenter Erlösungs- und Heilsbedürfnisse an Prestige gewonnen haben, ohne diese Erwartungen erfüllen zu können. Ausgehend vom traditionellen ärztlichen Ethos beschreibt er die gegenwärtig sich stark verändernde Situation, in der eine überwiegend auf messbare und quantifizierbare Faktoren ausgerichtete "evidenzbasierte Medizin" die qualitativen und subjektiven Aspekte der Heilkunst vernachlässigt, was insbesondere der sich demographisch ergebenden Situation unangemessen ist. Falsche Prioritätensetzungen und Anreizstrukturen wie das Abrechnungssystem nach diagnosebezogenen Fallgruppen (DRG) in den Krankenhäusern machen zeitaufwendige Betreuung und Beratung unattraktiv. Das Autonomieprinzip bringt es im Verbund mit den Aufklärungsverpflichtungen mit sich, dass die Patienten zunehmend durch die unübersehbare Menge der (häufig interessengesteuerten, Anmerkung des Rezensenten) medizinischen Themen in den Medien und im Internet überfordert und verunsichert sind.

Das Arzt-Patient-Verhältnis war schon immer wirtschaftlichen Zwängen ausgesetzt, durch direkte Bezahlung des Arztes früher eher weit mehr als heute. So bestand auch früher die Gefahr, dass Patienten nicht primär nach medizinischen, sondern nach ökonomischen Kriterien behandelt werden. Heute bestehen nebeneinander eine Überversorgung mit finanziell attraktiven medizinischen Leistungen (Kernspintomographien, Gelenkersatzoperationen), auf der anderen Seite Unterversorgung im Sinne einer verdeckten oder implizierten Rationierung. Die zugrundeliegenden Mechanismen sind nicht transparent und verschieben die Verantwortung auf den Arzt, indem sie beispielsweise dessen Budget limitieren. Er muss seine "Leistungen" verdeckt und nach eigenen Maßstäben einschränken. Dadurch wird die Arzt-Patient-Beziehung mit den Folgen Vertrauensverlust, Misstrauen, Enttäuschungen, Spannungen und Auseinandersetzungen sowie wiederholten Arztwechseln belastet.

Als einen ethisch problematischen Bereich der Suggestion von Machbarkeit benennt Vollmann die Reproduktionsmedizin, die zu hohe Erwartungen bei zu positiver Darstellung ihrer Erfolge weckt und IVF und ICSI als gefahrlose Angebote zur Kinderwunscherfüllung darstellt. Wir sehen in der Pädiatrie die Folgen davon, wenn wir nicht die Augen davor verschließen!

Was die Übertherapie am Lebensende angeht, sollte gelten: "Wer viel kann, muss auch viel lassen können". Hilfe bei Patientenverfügungen und ein "advance care planning" sind eigentlich ärztliche Aufgaben, die einer entsprechenden Anerkennung und Honorierung bedürfen. Dies leitet über zu einem Kapitel zu der gesellschaftlich kontrovers diskutierten Frage, ob Ärzte schwerkranke Patienten bei ihrer Selbsttötung unterstützen dürfen. Hier propagiert er eine liberalere Regelung für Deutschland nach dem Muster des US-Staates Oregon. Die Problematik der Transplantationsmedizin sieht er in ethisch fragwürdigen Strukturen, die Transplantationsskandale begünstigen und die potenziellen Organspender, uns alle, veranlasst hat, ihr das Vertrauen zu entziehen. Letzteres steht in engem Zusammenhang zu der Hirntoddiagnostik und überhaupt zum Sterben heute auf der Intensivstation. Wenn auch die Frage einer Organspende auf die Therapie keinen Einfluss haben darf, hat sie es implizit doch und führt zu einer neuen Dimension des Sterbens und des Todes. Allerdings werden Patienten bei entsprechenden Verfügungen die Intensivstation und das Stadium des Hirntods überhaupt nicht erreichen.

Im Kapitel "Personalisierte Medizin" entlarvt Vollmann ein fragwürdiges Versprechen, denn nicht der Patient als Person steht im Mittelpunkt, sondern sein Genom, um für ihn eine maßgeschneiderte Therapie bereitzustellen. Das Modewort "personalisiert" klingt gut und suggeriert, dass es sich um eine individuell angepasste Medizin handelt, die die ganzheitliche Situation und die individuellen Bedürfnisse des Menschen berücksichtigt, in Wirklichkeit aber "Patienten auf die Funktion molekulargenetischer Merkmalsträger reduziert" und somit eine extrem teure Mogelpackung ist.

Vollmann folgert, dass eine reiche und alternde Gesellschaft, die nicht die Kraft aufbringt, die nötig ist, ihr Gesundheitswesen zu reformieren, ihre demokratischen Selbstbestimmungsmöglichkeiten aufgibt. Sie sollte sich nicht beschweren, wenn international agierende Stakeholder unter dem Label "personalisierte Medizin" die Schwerpunkte selbst setzen. Das Bündnis aus naturwissenschaftlich forschender Medizin und privatwirtschaftlicher Pharmaindustrie funktioniere nicht mehr, unter anderem, weil die Interessen der globalen und wachstumsorientierten Pharmaindustrie nicht dem Bedarf unserer alternden und schrumpfenden Gesellschaft entsprechen. Die haltlose Preispolitik der pharmazeutischen Industrie setzt unser solidarisch finanziertes Gesundheitssystem unter Druck. Unserer angstgeschürten Gesellschaft wird eine wachsende gesundheitliche Bedrohung suggeriert, der Narzissmus der Patienten steigt, wie der Stellenwert persönlicher Entscheidungen.

Besonders in der Pädiatrie (Anmerkung des Rezensenten) wachsen Interessen der Pharmaindustrie an neuen Nischenmärkten, wie der "Orphan Drug"-Markt zeigt. Die Erfahrungen der letzten Jahre zeigen deutlich, dass derzeitige Innovationen der Medizin derart kostenaufwendig und ihr daran gemessener Nutzen sehr gering sind, dass die Schwerpunkte falsch gesetzt und die Erwartungen an die Omnipotenz der Medizin zusehends enttäuscht werden. Unsere alternde Gesellschaft, in der alte, multimorbide Patienten, chronische Erkrankungen und Pflegebedürftigkeit zunehmen, hat andere medizinische Bedürfnisse als eine junge Gesellschaft, in der akut erkrankte und kurativ zu therapierende Patienten vorherrschen.

Seiner Forderung nach einer Abkehr von der "Ich-Medizin" und eine Rückbesinnung auf eine "Wir-Medizin", die solidarische und psychosoziale Faktoren wieder stärker einbezieht, ist uneingeschränkt zuzustimmen.


Dr. Stephan H. Nolte, Marburg/Lahn


Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2020; 91 (4) Seite 302-303