Personalnotstand in der Kinderkrankenpflege, COVID-19 bei Kindern und die Digitalisierung in der Pädiatrie, das waren Themen, die auch für die Sozialpädiater auf dem Kongress für Kinder- Jugendmedizin 2021 in Berlin im Fokus standen. Und natürlich die Verleihung des Stefan-Engel-Preises. Hier eine erste Bilanz zum Kongress mit Informationen über den Preisträger.
Trotz Corona und sehr langer Vorbereitungszeit zieht Dr. Mona Dreesmann, Kongresspräsidentin der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin, ein "durchweg positives Fazit" des Berliner Kongresses: "So konnte seit Langem wieder mal vor Ort ein intensiver Austausch erfolgen, wobei sich die Sozialpädiatrie modern und intensiv im Gespräch mit ihren Netzwerkpartnern darstellen konnte." Über "Sozialpädiatrie live und in Farbe" konnte zudem eine neue Plattform angeboten werden. Über die Live-Teilnehmer in Berlin hinaus hatten über 30 SPZ das digitale SPZ-Ticket erworben und so ein Public Viewing von Sessions in ihren SPZ ermöglicht.
Das war unter anderem auch beim Thema "Was macht die Pandemie mit unseren Kindern und Jugendlichen – ein sozialpädiatrischer Blick" der Fall. Dabei sind laut Mona Dreesmann insbesondere die "Nebenwirkungen" der Schließung von Kita und Schule, zum Beispiel durch Einschränkungen der sozialen Kontakte, beleuchtet worden. Mit sehr weitreichenden Folgen, wie beim Kongress deutlich wurde.
COVID-19 und die Folgen für Kinder
So war vor der Corona-Pandemie Anfang 2020 lediglich jedes fünfte Kind in Deutschland psychisch auffällig gewesen. Nach dem 2. Lockdown Anfang 2021 gilt bereits jedes dritte Kind als psychisch belastet. Besonders betroffen sind Kinder mit Migrationsgeschichte, niedrigem Bildungsniveau, aus beengten Lebensräumen sowie Kinder von Eltern mit psychischen Erkrankungen.
Dies ist das ernüchternde Fazit von Anne Kaman vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, die an der ersten bundesweiten Studie zu den pandemiebedingten Auswirkungen der seelischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen (COPSY-Studie) beteiligt war. An der Studie hatten in der 1. Welle im Mai und Juni 2020 rund 1.500 Eltern sowie 1.000 Kinder im Alter von 7 bis 17 Jahren und in der 2. Welle im Januar 2021 nochmal 1.625 Eltern sowie 1.077 Kinder teilgenommen. Dabei stellte sich heraus, dass insbesondere generalisierende Ängste nach der 2. Welle (30 %) im Vergleich zur 1. Welle (24 %) und im Vergleich zu Zeiten vor der Pandemie (15 %) signifikant häufiger auftraten. Und auch die Lebensqualität der Kinder hat sich im Laufe der Pandemie für 7 von 10 Kindern (vor der Pandemie 3 von 10 Kindern) deutlich verschlechtert. Dies wird vor allem darauf zurückgeführt, dass sich für 40 % der Kinder das Verhältnis zu ihren Freunden verschlechtert hat. Dies wirkt sich auch auf die Familien aus. Ein Drittel der Eltern meint, dass zu Hause Streits häufiger eskalieren als zu Zeiten vor der Pandemie.
Kaman forderte in Berlin mehr "Unterstützung im sozialen Raum" insbesondere für die stark belasteten Familien. Um das zu erreichen, sollten dauerhaft Kitas und Schulen geöffnet bleiben und die Schulsozialarbeit "unbedingt flächendeckend" ausgebaut werden. Auch wenn nicht alle psychischen Auffälligkeiten manifest würden, sollte die COPSY-Studie über eine längere Zeit fortgeführt werden, um auch Aussagen über die längerfristigen Folgen treffen zu können, so die klare Botschaft Kamans an die Politik.
Eine weitere Klarstellung erfolgte vom Epidemiologen Prof. Rüdiger von Kries, Mitglied der STIKO und Redaktionsmitglied dieser Zeitschrift. Gerade um schwere Erkrankungen wie die myalgische Enzephalomyelitis/das chronische Fatigue-Syndrom oder weitere Auswirkungen von COVID-19 auf Kinder zu verhindern oder einzudämmen, habe sich die STIKO im September dazu durchgerungen, die Impfungen für 12- bis 17-Jährige nach längerem Zögern nun doch zu empfehlen. Dies sei allerdings nicht – wie immer wieder behauptet – auf "Zuruf der Politik" oder aufgrund des "Rechts auf Bildung von Kindern", sondern rein nach wissenschaftlicher Datenlage erfolgt. Diese weise derzeit einen "geringen Vorteil der Impfung" im Vergleich zum Verzicht auf die Impfung aus. Das COVID-Risiko ist laut von Kries für Kinder allerdings weiterhin nicht "gigantisch hoch".
Droht Kinderkrankenpflege Versorgungskollaps?
Gigantisch groß ist dagegen der Mangel an Kinderkrankenpflegekräften in der Pädiatrie. Der nicht mehr zu deckende Bedarf an Gesundheits- und Kinderkrankenpflegern betreffe zunehmend auch die Sozialpädiatrischen Stationen und Sozialpädiatrischen Zentren, erklärte Mona Dreesmann in Berlin. Die Versorgungsqualität für kranke Kinder und Jugendliche gerate insbesondere durch die unzureichende Umsetzung des Pflegeberufegesetzes zu Lasten der Kinderkrankenpflege und den bereits existierenden Personalmangel in der Kinderkrankenpflege immer mehr in Gefahr, kritisierte Prof. Jörg Dötsch, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder und Jugendmedizin (DGKJ). Obwohl hinreichend bekannt ist, dass kranke Kinder mehr Zeit und mehr Aufwand für pflegerische und ärztliche Tätigkeiten benötigen, fänden sich diese spezifischen und erhöhten Anforderungen für kranke Kinder nicht in den Vorgaben, Kalkulationen und Abrechnungsschemata der stationären und ambulanten Versorgung wieder. Insbesondere die Reform der Pflegeberufe hin zu einer generalistischen Ausbildung wirke sich "in einem bedrohlichen Maß" aus, bekräftigte die Kongresspräsidentin des Berufsverbands Kinderkrankenpflege, Birgit Pätzmann-Sietas. Wie von pädiatrischer Seite befürchtet, zeichneten sich hohe Abbruchquoten in der Ausbildung ab. Als besonders prekär wurde in Berlin das reduzierte Angebot an Ausbildungsplätzen für die Kinderkrankenpflege angesehen. Derzeit bieten nur zwei Drittel der Ausbildungsstätten die Vertiefung pädiatrische Versorgung und nur ein Drittel die Spezialisierung in der Kinderkrankenpflege an. Pätzmann-Sietas: "Wir stehen vor einem Versorgungskollaps in der Kinderkrankenpflege in allen medizinisch-pflegerischen Versorgungsbereichen! Dabei hatte nach einer Bestandserhebung des Berufsverbands Kinderkrankenpflege das Fach bis zur Novellierung des Gesetzes kaum Nachwuchssorgen.
Um noch genügend Nachwuchs rekrutieren zu können, müsse die Sozialpädiatrie um jede einzelne Fachkraft ringen, bekräftigte Mona Dreesmann. Diese attraktive Positionierung sozialpädiatrischer Tätigkeiten, die im multidisziplinären Team erfolgt, müsse daher in Zukunft noch pointierter dargestellt werden.
(siehe auch Abbildungen zur Preisverleihung)
Digitalisierung und Teilhabe
Eine pointiertere Darstellung auch der digitalen Transformation wünschten sich in Berlin viele Kongressteilnehmer. Kongresspräsidentin Mona Dreesmann brachte das Dilemma auf den Punkt: "Wir befinden uns mitten in der Revolution und begreifen sie nur zu einem kleinen Teil. Wir tun gut daran, die Arzt-Patienten-Beziehung neu zu denken und die Partizipation des Patienten zu fördern."
Zum Beispiel auch bei behinderten Kindern. So können beispielweise bei Kindern, deren rechte Hand gelähmt ist, durch Videospiele solche Trainingseffekte erzielt werden, dass Versteifungen an den Gelenken reduziert werden. Bei nicht sprechenden Kindern kann mit Hilfe eines Tablets durch Tasten- oder gar Augensteuerung Kommunikation hergestellt werden. Die Überführung solcher Digitaltechniken ins therapeutische Setting auch im häuslichen Umfeld, die zu mehr sozialer Teilhabe führen können, steht aber auch in der Sozialpädiatrie "erst ganz am Anfang", erläuterte Mona Dreesmann.
Wohin dies führen könnte, zeigte Frau Prof. Andréa Belliger, Prorektorin der Pädagogischen Hochschule Luzern und anerkannte Expertin für digitale Transformationsprozesse, in Berlin auf. Nach ihrem Verständnis wird die Digitalisierung in der Medizin zu gesellschaftlichen Veränderungsprozessen führen, die im positiven Sinne vollständig neue "Werte und Normen" schaffen. So werde es in der Online-Welt in Netzwerken künftig keine fixen Rollen und Funktionen für Behandler mehr geben, was zum Beispiel chronisch kranken Kindern neue Behandlungsoptionen eröffne. Versorgungsprozesse von Patienten würden weniger hierarchisch und stärker von den Patienten selbst geprägt werden. Diese "Bottom-up-Prozesse" über digitale Patientenforen verzeichneten "enorme Wachstumszahlen."
Im weiteren Diskussionsprozess wurde jedoch einmal mehr deutlich, dass Pädiater Digitalisierung anders bewerten als die in diesem Sektor tätigen Experten. So wies zum Beispiel ein Pädiater aus einem SPZ darauf hin, dass die zunehmende Digitalisierung auch gerade bei denjenigen Kindern zu einer weiteren "Deprivation" führen werde, die ohnehin bereits (medizinisch) benachteiligt oder weitgehend isoliert leben. Die negativen Folgen eines solchen Lebens von Kindern in ihrer digitalen Welt, die mehr Entwicklungsstörungen und neue Erkrankungen auslösen, seien tagtäglich bei immer mehr pädiatrisch zu versorgenden Kindern – in den SPZ und im ambulanten Bereich – zu spüren.
Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2021; 92 (6) Seite 426-430