Die Einschätzung der Gesundheit ganz allgemein und der Entwicklung von Kindern bedarf eines weiten, systemischen Ansatzes. In diesen münden nicht nur i. e. S. organisch-biologische Faktoren. Auch Paradigmen, Modell-Vorstellungen und Zeitgeistfragen spielen eine Rolle.

Das im Folgenden behandelte übergeordnete Thema bezieht sich darauf, dass die hier angesprochenen Fächer (Entwicklungsneurologie und Sozialpädiatrie) in besonderem Maße in einem offenen Austausch stehen und immer auch in Entwicklung sind. Dieser Prozess hängt nicht nur vom allgemeinen medizinisch-naturwissenschaftlichen Fortschritt ab, sondern von bestimmten Paradigmen, Modell-Vorstellungen und Zeitgeistfragen, die sich auf Kindheit und Entwicklung beziehen. Der konstituierende Rahmen ist ein allgemein-gesellschaftlicher.

Um es nochmals zu akzentuieren: Entwicklungsneurologie und Sozialpädiatrie sind keine reinen (natur-)wissenschaftlichen Fächer, die sich durch eine gewisse Linearität des Fortschrittes, durch eine Akkumulation von neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen auszeichnen. Die beiden Fachdisziplinen liegen vielmehr in mancher Hinsicht in Nachbarschaft zur Soziologie, der evolutionären Anthropologie und der Psychologie, aber auch der Ökonomie (letzteres speziell im historischen Kontext).

Für die Pädiatrie ist die Entwicklungseinschätzung von Kindern einerseits und die Verankerung der Gesundheit der Kinder im sozialen (familiären, institutionellen) Kontext andererseits eine – wenn nicht die – spezifische Tätigkeit. Natürlich gibt es Infektiologie, Orthopädie, Ophthalmologie, Onkologie etc. auch in der pädiatrischen Version. Aber die angegebene Entwicklungsthematisierung existiert nicht in einer adulten Form. Wer pädiatrisch tätig ist, muss sich mit Entwicklungskorridoren, mit den Variabilitäten und Interdependenzen (Sozialpädiatrie i. e. S.) beschäftigen.

Diese spezifischen Subdisziplinen der Pädiatrie stehen in besonderem Maße im Wind der Ansichten, von Modellen sowie gesellschaftlichen Veränderungen.

Annäherung durch Abgrenzung

Neue Methoden haben immer schon für die Medizin eine große Rolle gespielt, waren Motor des Fortschritts. Diese aus den Naturwissenschaften erwachsenden Möglichkeiten gibt es in allen Fachbereichen. Für die Neuropädiatrie sei hier ein Beispiel erwähnt: Die Zunahme des Wissens um Ionenkanäle hat wesentliche Erkenntnisse für die Epileptologie erbracht. Bestimmte Formen können nun klar molekulargenetisch zugeordnet werden (wie das Dravet-Syndrom und einige weitere meist früh-manifeste Epilepsien). Dies ermöglicht eine neue Nosologie, die auch bestimmte therapeutische Ansätze impliziert.

Auch die Hinwendung zur Genetik und die damit manchmal in den Hintergrund tretende klinische Annäherung stellen natürlich einen gewissen Paradigmen-Shift da, der aber klar mit naturwissenschaftlichen Fortschritten zusammenhängt. Das ist hier nicht das zentrale Thema. Hier soll die besondere Einbindung von Entwicklungsneurologie und Sozialpädiatrie in die jeweilige Zeit, die Abhängigkeit von Modellen und Vorstellungen – zum Kindsein und zur Entwicklung – thematisiert werden.

Modell-Vorstellungen 1

Einschätzung der Entwicklung

Die Einschätzung der Entwicklung hängt mit bestimmten paradigmatischen Modellen zusammen. Entwicklung in Analogie zur Reifung legt eher Linearität nahe. Ein Entwicklungsschritt sollte streng auf dem vorherigen aufbauen. Und auf der anderen Seite stehen Adaptivität und Organisation im Kontext einer systemischen Entwicklungsvorstellung. Das bedingt auch das, was man so als "normal" bzw. "pathologisch" definiert. Die Forschung der letzten Jahre bzw. Dekaden hat gezeigt, dass es durchaus auch das intra- und interindividuelle Unterschiede innerhalb der einzelnen Entwicklungsmodule (Motorik, Sprache, Sozio-Emotionalität) häufig keine kontinuierlichen Fortschritte gibt, sondern dass sogar partielle Regressionen vorübergehend normal sind. Ein Entwicklungsmodell, das intraindividuelle Unterschiede sowie Entwicklungsverläufe in Abhängigkeit von genetischen Vorgaben, familiären und kulturellen Umweltanforderungen auch im Zusammenhang jeweils mit den verschiedenen Qualitäten (Körper-Motorik, Handmotorik, Sprache, emotionale und soziale Kompetenzen) versteht, kann diese Variabilität als normal erkennen. So wird z. B. das Erlernen des gezielten Greifens – in Abhängigkeit von Hirnreifung bzw. Intention und Arousal, der Kraft, der aktuellen Körperposition in Relation zum Objekt und dessen Wahrnehmung und den gemachten Erfahrungen – variiert bzw. eingeübt.

Historischer Kontext

Im historischen Kontext (s. auch späteren Absatz) wird die Abhängigkeit der Entwicklungsvorstellung von bestimmten Paradigmen bzw. Zeitvorstellungen besonders deutlich: Kindern wurde in der frühen Antike keine eigene Persönlichkeit zugesprochen. Erst 318 nach Christus stellte der römische Kaiser Konstantin die Kindstötung unter Strafe. Das Christentum bildete dann den Rahmen, in dem Tötung jeglichen Lebens verboten war. Im Mittelalter waren Kinder zuerst in den Arbeitsalltag integriert. Der Umgang mit Mädchen und Jungen war ganz unterschiedlich. Nach dem 18. Jahrhundert wurden erste medizinisch-hygienische Erkenntnisse gewonnen, die auch allmählich eine Reduktion der Kindersterblichkeit einleiteten. Rousseau publizierte revolutionäre Ideen zur Kindheit, wonach alle Menschen von Geburt an als gleich und gut anzusehen seien, und sich frei entwickeln sollten. Die bürgerliche Gegenbewegung ließ nicht lange auf sich warten. Kinderarbeit gab es im 19. Jahrhundert – und gibt es z. T. heute noch. 1904 wurde ein erstes Kinderschutzgesetz veröffentlicht, seit 1919 müssen alle Kinder in Deutschland in die Schule gehen. Die UN-Kinderrechtskonvention (1989/1990) dokumentiert Rechte der Kinder und auch daraus abgeleitete soziale, juristische Pflichten (der Gesellschaft, des Staates). Deutschland stimmte 1992 zu.

Die Kindheit als allgemein anerkannter Schutzraum ist aber auch heute noch nicht überall umgesetzt.

Das aktive Kind

Wenn Kinder schwerpunktmäßig auf ihre Anlagen "reduziert" wurden (Nativisten), ist die Konsequenz, Räume anzubieten bzw. eben abzuwarten. Wenn man von einer "Tabula rasa" ausging, implizierte das eine möglichst frühzeitige intensive Beeinflussung durch Erziehung, eben eine Füllung dieser Tabula. Die aktuelle Modellvorstellung "das aktive Kind" betont die Formung der Entwicklung durch die Kinder selbst, durch die von ihnen mitgestalteten Interaktionen. So beginnen schon ganz kleine Säuglinge, Gesichter gegenüber Gegenständen zu präferieren, dann auch das Gesicht der Hauptbezugsperson gegenüber anderen und ab dem 2./3. Lebensmonat lächeln oder gurren sie und evozieren so eine Antwort. Es entsteht ein erster "Dialog". So wird die Bindung zwischen Bezugsperson und Kind gestärkt (ausgelöst vom aktiven Kind). Später suchen sich die Kinder die zu ihnen passenden Erfahrungen, u. a. die adäquaten Spiele. Auch dieses intrinsisch motivierte Verhalten kann dem "aktiven Kind" zugeschrieben werden.

Dieser eigen-konstruktivistische Beitrag wird ergänzt durch ein Kernwissen, das Kinder in verschiedenen Domänen schon mitbringen. Es ermöglicht den Kindern z. B. zwischen lebenden und leblosen Objekten zu unterscheiden (und sie müssen dies nicht empirisch zigfach überprüfen). Sie erwarten nur von letzteren, dass sie unverändert bleiben, wenn sie nicht aktiv von außen bewegt werden. Ein anderes Beispiel ist die Theory of Mind, die die Kinder disponiert, auch anderen eigene Bewusstseinsvorgänge zuzuschreiben.

In den Konzepten des Kernwissens und des aktiven Kindes kommen die evolutionäre Ausstattung einerseits und die für den Homo sapiens charakteristische kollektive und individuelle Adaptivität andererseits zusammen.

Teilhabe

Die Sozialpädiatrie ist schon per definitionem an dem Verständnis der Kinder und Jugendlichen im Kontext der Familie und der relevanten sozialen Systeme interessiert. Dies hat in den letzten beiden Dekaden zur Betonung der "Teilhabe" geführt. Zentral ist also nicht mehr (nur) eine Verbesserung, Unterstützung, der Funktionen und möglichen Aktivitäten, sondern die Integration in das Leben, die Teilhabe, z. B. im familiären, schulischen, sozialen Kontext. Die ICF-Klassifikation (International Classification of Functioning, Disability und Health) trägt dem Rechnung. Die Zielsetzung dieser Klassifikation wird in den Kategorien "Körperfunktionen und Körperstrukturen", "Aktivitäten und gesellschaftliche Teilhabe" sowie "Kontextfaktoren" operationalisiert. Der Blick soll also geweitet werden, indem die Lebenswirklichkeit insgesamt abgebildet wird.

Modell-Vorstellungen 2

Das Gehirn als Computer oder auch als Konnektom

Die eben dargestellten Aspekte beziehen sich auf die klinische, psychologische Ebene. Dazu gibt es Korrelate in der Neurobiologie, im Verständnis der Arbeitsweise des Gehirns.

Eine Analogie bezieht sich auf das Gehirn als Computer, dann auch als Konnektom. Hier spielt der In- und Output-Gedanke eine Rolle. Füttern und dann kommt schon etwas raus – aber was?

Der Begriff "Konnektom" akzentuiert die zentrale Arbeitsweise des Gehirns in der neuronalen Vernetzung (Abb. 1), also das Agieren in der Verdrahtung. Im Human Connectome Project sollen die Verbindungen im Nervensystem so weit wie möglich entschlüsselt werden (2010). Diese Ansätze haben erhebliche Fortschritte im Verständnis der normalen und abweichenden zerebralen Arbeitsweise erbracht. Unterschiedliche Verbindungen bzw. Verbindungsstärken können wesentliche Aspekte der Individualität, aber auch von Entwicklungsstörungen beschreiben.

Das Gehirn als offenes System

Aber: Das menschliche Gehirn ist damit wohl unzulänglich beschrieben bzw. beschreibbar. Es wird heute eher als "offenes", z. T. sich selbst-organisierendes System verstanden.

Auf der im engeren Sinne neurobiologischen Ebene sind diesbezüglich zwei Aspekte zentral:

  1. Das Gehirn ist immer tätig, eigenaktiv, immer "elektrisch" am Feuern. Wie das Feuer im Kamin, ist diese Aktivität nicht komplett determiniert, kann diese Eigenaktivität grundsätzlich nicht vollständig vorhergesagt werden.
  2. Das Gehirn steht in einem kontinuierlichen Austausch

a) mit sich selbst

b) mit dem Körper

c) mit der Umwelt

Da es sich auch hier um offene Systeme handelt, kann ein Computer-Modell die menschliche Hirn-Aktivität nicht komplett beschreiben.

Das Gehirn allein ist ein einsamer Rufer in der Wüste. Dieses Rufen kann nur in Verbindung mit dem Körper und in der Beziehung zu anderen Menschen und der weiteren externen Umwelt verstanden werden. Der Körper und die soziale bzw. externe Umwelt sind für die Rufe wesentlich mitbestimmend. Der Wind hat sich also gedreht. Die Begeisterung für die Zunahme des Wissens über die Arbeitsweise des Gehirns (Methoden-gebunden) führte zu einer gewissen Isolation des Gehirns, so wie wenn alles aus dem Verständnis dieser Arbeitsweise erklärbar wäre. Und natürlich bleibt das Gehirn ein zentrales Organ – ohne dessen Funktionsfähigkeit menschliches Leben nicht mehr existent ist. Andererseits steht es eben in einem kontinuierlichen Austausch, ohne den menschliches Leben ebenfalls nicht denkbar ist. Das Gehirn kann also nur in diesen Interaktionen begriffen werden. Hier zeigt sich die Parallele zu den oben dargestellten klinischen Aspekten. Entwicklung – im systemischen Sinne – und die Sozialpädiatrie insgesamt sind charakterisiert durch die entsprechenden Einbindungen.

Eine akzentuierte Veränderung der Beziehungsrichtung drückt sich im Begriff "Embodiment" aus. Dies charakterisiert den Einfluss der vom Körper (der Haltung, der Mimik) auf die Psyche, auch die kognitive und motorische Bereitschaft, ausgeübt wird. Die enge bidirektionale Verbindung (Mentales – Körperliches) fundiert therapeutisch-pädagogische Ideen, die schon länger in der Praxis angekommen sind (bzw. regt diese weiter an).

Evolutionäre Entwicklungsvorstellungen

Phylogenese

Die Phylogenese kann in mancher Hinsicht als Modell für die ontogenetische Entwicklung genommen werden: Dahinter steckt die Vorstellung, dass das, was früher (vor z. B. 4 Millionen bis 100.000 Jahren) für den Homo wichtig war, auch heute noch in uns drinsteckt. Zudem die Vorstellung, dass es gut ist, wenn wir dieses Erbe kennen, und uns in mancher Hinsicht demgemäß verhalten (Bewegung, auch Nahrung mit Pausen; soziales Miteinander, Singen). Dieser Aspekt stellt sicher einen wesentlichen Zugang zum Verständnis des Menschen, und auch der kindlichen Entwicklung dar. Die lange Schwangerschaftsdauer, die völlige Hilflosigkeit des Neugeborenen, die lange Zeit der Unreife, des Angewiesenseins auf Unterstützung entsprechen auf der anderen Seite die biologische Disposition, sich um die Kinder zu kümmern, Nähe zu suchen, Interaktionen aufzunehmen. Der Mensch ist – wie alle Hominiden – nur in der Gruppe überlebensfähig.

Konkrete Umgangsweisen

Auch konkrete Umgangsweisen können im evolutionären Kontext verstanden werden: Es muss nicht schädlich sein, wenn man Säuglinge und kleine Kinder auch nachts sehr eng bei sich hat. Die Ernährung darf sich durchaus an Reduktion der Energiemenge und der schnell verfügbaren Kohlenhydrate orientieren. Für die aktuelle Verführung bzw. permanente Verfügbarkeit von hochkalorischen Nahrungsmitteln ist der Homo sapiens nicht gebaut. Andererseits kann die Nahrungspräferenz für "süß" im evolutionären Kontext verstanden werden: Schon Neugeborene bevorzugen diesen Geschmack. Giftiges war (und ist) meist bitter oder sauer und so gut wie nie süß. Auch die ADHD-Entwicklungsvariante wird von manchen entsprechend gedeutet. Früher konnte es durchaus einen Überlebensvorteil darstellen, wenn man rasch auf alle möglichen Reize reagierte, sozusagen ablenkbar war. Die Welt hat sich aber geändert: Heute wird in der bildungsbürgerlichen Lernumgebung ruhiges Sitzen und Konzentration erwartet.

Relativität der evolutionären Analogie

Die Relativität der evolutionären Analogie wird u. a. in der menschlichen Abhängigkeit von motorischer Aktivität deutlich. Unsere Vor-Vorfahren mussten sich noch sehr wenig bewegen. Dies gilt für die frühen Hominiden, die gemeinsamen Vorfahren von Menschen und Schimpansen. Sie bekamen und bekommen keine Arteriosklerose und keinen Diabetes, auch wenn sie sich wenig bewegen, und auch tagsüber "relaxen". Aber dann änderten sich vor etwa 4 – 6 Millionen Jahren die Überlebensbedingungen. Mit dem bipedalen Gang und der Notwendigkeit, auf dem Boden zu sammeln und Wild in der Savanne zu jagen, etablierte sich ein Stoffwechsel, der auf körperliche Aktivität angewiesen war. Dies ist nun in unserer Biologie verankert. Der evolutionäre Vergleich bezieht sich also auf die letzten Millionen Jahre, und nicht auf die Zeit davor. Problematisch ist es heutzutage nur, dass wir weder jagen noch sammeln müssen und dass in vielen Bereichen körperliche Aktivität zur Regelung des Lebens kaum mehr notwendig ist.

Abhängigkeit vom Zeitgeist (und wissenschaftlichen Erkenntnisse)

Kindheit als qualitativ eigene Entität

Während im alten Rom Kinder noch Tieren und Sklaven gleichgesetzt wurden, und entsprechend keine selbstbestimmte Lebensberechtigung hatten, hat sich das in den letzten Jahrhunderten doch geändert. Die Kindheit wird jetzt als qualitativ eigene Entität gesehen und durch besondere Rechte geschützt. Dazu gehören das Recht auf möglichst freie Entfaltung, das Recht auf Bildung, das Recht auf soziale Interaktionen. Da es sich um eine schützenswerte, eigene Lebensphase handelt (bzw. eine mit der Verpflichtung zu entsprechendem Schutz) kann sich auch die Messlatte der Entwicklung nicht am Erwachsenensein orientieren. Sie werden nicht beurteilt im Hinblick auf das Funktionieren in der "Erwachsenen-Welt". Der "Zeitgeist" legt es also nun nahe, die spezifischen Bedürfnisse von Kindern zu definieren und die Umwelten daran anzupassen.

Kinder im System Familie

Früher gab es in den Kinderkliniken sehr restriktive Besuchszeiten. Heute werden die Kinder als essenziell in ihr System (meist Familie) eingebunden gesehen. Sie zu trennen bedarf ganz besonderer Gründe. Wenn eben möglich, sollte die Bindung auch über die physische Präsenz gehalten werden (die Bindungstheorie als eine der Grundlagen des Umgangs mit Kindern).

Der Behaviorismus sah die Nahrungsgabe bzgl. der Bindung "Bezugsperson – Kind" zentral. Der Input "Nahrung" evozierte die abhängige Variabel "Bindung". Dann mussten einige Rhesusaffen leiden: Sie wurden nach der Geburt von den Müttern getrennt. Sie hatten dann die Alternative, entweder eine Drahtmutter, die mit Stoff umkleidet war, aufzusuchen, oder eine milchgebende Drahtmutter. Die Affenkinder suchten die "Stoffmütter" lieber auf als die nachgebauten Ernährungs-Mütter. Es ging ihnen anscheinend primär um Sicherheit, Trost, Wärme. Und dies war die Voraussetzung für die weitere Explorationsneigung der kleinen Affen. Es wurde deutlich, dass die Geborgenheit essenziell für eine gute Entwicklung ist (nicht nur dieser Primaten).

Verständnis der Geschlechter- bzw. Gender-Spezifika

Der Umgang mit Kindern wird auch vom zeitabhängigen Verständnis (bzw. entsprechenden wissenschaftlichen Erkenntnissen) der Geschlechter-bzw. Gender-Spezifika geprägt. Ohne detailliert auf die Themen "Transgender, genderqueer, bigender" einzugehen, soll doch festgehalten werden, dass sich die strikt binäre Geschlechterkategorisierung als unpassend herausstellte. Und das wurde und wird immer dann zum Problem, wenn die individuelle Gender-Identität nicht mit dem Geschlecht übereinstimmt.

Wie werden die Kinder angezogen, welche Spielsachen werden angeboten, was für Erwartungen an das jeweilige Verhalten gibt es? Die unterschiedliche Annäherung geschieht sicher z. T. unbewusst. Die weitere geschlechtsspezifische Prägung hat eine starke Abhängigkeit von der Erziehung, den gesellschaftlichen Normen. Im Rahmen der Selbstsozialisation übernehmen Kinder geschlechtstypische Einstellungen und Verhaltensweisen, u. a. durch Beobachten und Schlussfolgern.

Heutzutage sind einige der früher als selbstverständlich akzeptierten Entwicklungskorridore in Frage gestellt. Auch hier gab es einen Paradigmenwechsel. Mädchen dürfen raufen, Konstruktionsspielzeug bevorzugen. Oder Jungen dürfen weinen und sich in der Puppenstube wohlfühlen. Es geht darum, die interindividuell unterschiedliche Entwicklung der Kinder zu sehen, sie zu akzeptieren und zu fördern. Denn natürlich ist die Projektion des "Geschlechts-Rahmens", der von Eltern und der Gesellschaft gegeben wird, mitbestimmend, wie Kinder sich selbst bzw. sich in der Gemeinschaft verstehen. Und die individuellen Anlagen sollten damit übereinstimmen.

Schlussfolgerung

  • Wie Entwicklung gesehen wird, wie Kinder verstanden werden – das ist nicht nur Sache der Medizin, sondern gehört in den Bereich der Humanwissenschaften. Insofern sind die beiden Disziplinen "Entwicklungsneurologie" und "Sozialpädiatrie" abhängig von derartigen Modellen und Paradigmen, sind im Kontext des Zeitgeistes zu verstehen.

  • Auch wir befinden uns in einem offenen, sich entwickelnden System. Die aktuelle Perspektive verführt immer dazu, den Jetzt-Stand und auch die nun absehbaren Entwicklungen apodiktisch zu werten. Wovon soll man auch sonst ausgehen? Aber diese hier skizzierten Anregungen sollen helfen, wenigstens hin und wieder zurückzutreten und sich die Relativitäten bewusst zu machen.

Wesentliches für die Praxis . . .
  • Die Einschätzung der Gesundheit ganz allgemein und der Entwicklung von Kindern bedarf eines weiten, systemischen Ansatzes.
  • In diesen münden nicht nur i. e. S. organisch-biologische Faktoren.
  • Wie Kinder im Kontext der Familie, der weiteren sozialen Strukturen gesehen werden, ist in hohem Maße Zeit- bzw. Kultur-abhängig.
  • Auch wir wissen nicht, wie die entsprechende Perspektive in 50 Jahren aussieht; wir engagieren uns nach Kräften – in eben diesem Bewusstsein.


Korrespondenzadresse
PD Dr. Gerhard Niemann
Doblerstraße 27
72074 Tübingen

Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2023; 94 (2) Seite 137-143