Sozialpädiatrischem Versorgungsbedarf kommt in der Kinder- und Jugendmedizin eine immer größere Rolle zu und stellt die Pädiatrie heute vor wachsende Herausforderungen. Aufgrund der Komplexität vieler Erkrankungen wird die allgemeine Pädiatrie und Sozialpädiatrie aber die Expertise ihrer Subspezialitäten wie auch die anderer Fachgebiete sowie weiterer Berufsgruppen noch weit stärker als bislang nutzen müssen.

Darauf haben eine Vielzahl von Referenten beim Kongress für Kinder- und Jugendmedizin der großen wissenschaftlichen pädiatrischen Fachgesellschaften in Köln hingewiesen. Gerade die Sozialpädiatrie müsse daher in der medizinischen Versorgungslandschaft gestärkt werden, weil sie mit ihrem integrativen Auftrag in der Lage sei, die medizinische Expertise mit der Kompetenz anderer Berufsgruppen zu vereinen, erklärte Prof. Knut Brockmann aus Göttingen, Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin (DGSPJ) und Chefredakteur der Kinderärztlichen Praxis. Besonders wichtig seien die Einbindung von nichtärztlichen Therapeuten, Psychologen und Sozialarbeitern, Frühförderstellen sowie die Kommunikation mit den Jugend- und Sozialämtern im Sinne einer multiprofessionellen Kooperation.

Dies bekräftigte auch Dr. Karl-Josef Eßer, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ). Die Medizin generell und die Pädiatrie speziell dürften ihren Blick nicht mehr allein darauf ausrichten, Krankheiten zu heilen, sondern darüber hinaus für eine gute Lebensqualität und Teilhabe der betroffenen Kinder, Jugendlichen und ihrer Familien zu sorgen. Wichtig sei zudem, die psychosozialen und gesellschaftlich politischen Dimensionen von Krankheiten im Kindes- und Jugendalter zu erkennen und das multimodale Therapiekonzept darauf auszurichten. Viel stärker als bisher müssten hierfür künftig aber auch die Kompetenzen und das Erfahrungswissen von Elterninitiativen und Patientenvertretern mit einbezogen werden, forderte Eßer in Köln.

Wie dies konkret in der Praxis aussehen sollte, machte Prof. Michael Weiss als Tagungspräsident am Beispiel der chronischen Erkrankungen Neurodermitis und Asthma deutlich. Neben einer effektiven und raschen Linderung von Juckreiz und Atemnot sei "die Unterstützung bei Krisen, bei krankheitsbedingten Verschlechterungen oder Interferenzen im Schüler- und Familienalltag" genauso wichtig. Der Leitspruch "Meine Krankheit, mein Leben" spiegelt diese Herausforderung für die Ärzte am besten wieder. Nur so könne auf Dauer in der Kindheit oder Adoleszenz die Behandlungstreue sichergestellt und das Selbstmanagement gefördert werden. Davon profitierten laut Weiß später auch die Erwachsenenmediziner, da eine weitgehende Autonomie junger Patienten "der wesentliche Erfolgsfaktor für eine gelungene Transition ins Erwachsenenalter" sei.

Kommentar:
"Bio-psycho-sozial", das war die dominierende Devise, die beim diesjährigen Kongress für Kinder-und Jugendmedizin in Köln immer wieder zu vernehmen war. Für komplexe Entwicklungs- und Gesundheitsstörungen, die eng mit psychosozialen und gesellschaftlichen Ursachen assoziiert sind, stehen der Pädiatrie jedoch weder stationär noch ambulant die nötigen Ressourcen zur Verfügung. Die Kliniken für Kinder- und Jugendmedizin wie auch die für Kinderchirurgie sowie die Sozialpädiatrischen Zentren sind aufgrund von Personalmangel und sehr hohen Fallzahlen nicht in der Lage, den Strom von solchen aufwendig zu betreuenden Patienten aufzufangen. Die übervollen Praxen der Pädiater erst recht nicht, zumal auch das Honorarsystem darauf in keiner Weise ausgerichtet ist. Zwar gibt es positive Ansätze wie die sozialmedizinische Nachsorge, die Frühen Hilfen oder auch die Transition, die aber alle noch unzureichend ausgestattet sind. Andere Angebote fehlen komplett, zum Beispiel die Möglichkeit, Kompetenz aus der Kinder- und Jugendhilfe oder eine Ernährungsberatung in die ärztliche Sprechstunde mit hineinzuholen. Dafür müssen aber erst einmal Finanzkonzepte her, und zwar schnell, weil sonst nicht nur den Pädiatern die Zeit davonläuft.


Autor
Raimund Schmid


Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2017; 88 (6) Seite 364