Gegründet 1930 unter schwierigen Bedingungen konnte die "Kipra" bis heute ihren Platz unter den führenden pädiatrischen Fachzeitschriften behaupten und hat sich dabei stets weiterentwickelt. Zu den bewährten Print-Ausgaben gibt es heute regelmäßige Newsletter und ein eigenes Online-Portal.

"Kinderärztliche Forschung ist keine Philosophie, sondern dient der Persönlichkeit des Kindes, dem Erkennen und Heilen seiner Krankheiten". So begründete Stefan Engel die Notwendigkeit für eine weitere kinderärztliche Zeitschrift, die "dem Praktiker die Ergebnisse der Forschung in ihrer Anwendung vor Augen führen" sollte [1].

"Jeder Kinderarzt (…) muss gleichzeitig Sozialarzt sein"

Die Kipra sollte praxisorientiert und sozialpädiatrisch orientiert sein: "Jeder Kinderarzt, der seine Aufgabe voll erfasst, muss gleichzeitig Sozialarzt sein". Herausgeber waren neben Stefan Engel (1878 – 1968, 1936 nach London emigriert), Dortmund, und Erich Nassau, Berlin (1888 – 1974, 1938 nach Palästina emigriert), Max Klotz, Lübeck, Leopold Langstein (1876 – 1933), Ludwig Ferdinand Meyer (1879 – 1954, emigrierte 1935 nach Palästina), Hans Rietschel (1878 – 1970), Würzburg, Wilhelm Stoeltzner, Königsberg (1872 – 1954) und Emil Wieland (1867 – 1947), Basel. Schon bald sollte sich das Team wandeln.

1930 gab es sechs Zeitschriften für Kinderheilkunde

Nun gab es 1930 bereits einige pädiatrische Zeitschriften. Adalbert Czerny (1863 – 1941), der damalige Nestor der Pädiatrie in Deutschland, schrieb über die gegenwärtige pädiatrische Literatur [2], dass es in Deutschland sechs Zeitschriften für Kinderheilkunde gebe und damit alle Länder der Welt übertroffen seien. Damit sei aber nicht gesagt, dass diese alle notwendig wären, denn es würde zu viel und viel zu umfangreich geschrieben. So nannte er erstens das "Jahrbuch für Kinderheilkunde und physische Erziehung", 1857 in Österreich gegründet (welches ab 1938 mit dem Karger-Verlag schon ins Basler Exil ging und als "Annales paediatrici" fortgeführt wurde), zweitens das von Adolf Baginski (1843 – 1918) begründete "Archiv für Kinderheilkunde", drittens die von Arthur Keller (1868 – 1934) herausgegebene "Monatsschrift", viertens die "Zeitschrift für Kinderheilkunde" im Springer-Verlag, dann das "Zentralblatt für Kinderheilkunde" – und schließlich die "Kinderärztliche Praxis", die gegründet worden sei, weil die wissenschaftlichen Arbeiten in den übrigen Zeitschriften nicht den Bedürfnissen des Arztes in der Praxis entsprechen.

In wenigen Jahren zur meistgelesenen pädiatrischen Zeitschrift

Wörtlich schrieb Czerny, der die Hand nicht vor den Mund nahm und mit seinen Kollegen schonungslos in Gericht ging: "Da die medizinischen Wochenschriften diesen Zweck erfüllen, so ist nicht ohne weiteres die Notwendigkeit der "Kinderärztlichen Praxis" einzusehen. Ich hätte sie nicht gegründet. Andere denken anders. Soweit ich weiß, erfreut sich die Zeitschrift eines großen Anhangs."

In wenigen Jahren wurde die Kipra die meistgelesene pädiatrische Zeitschrift mit einer Abonnentenzahl von über 1.500, trotz des Widerstands der naturwissenschaftlichen Universitätsmedizin, die dieser Form von Wissensvermittlung, nicht von Lehrstühlen herausgegeben, ablehnend gegenüberstand [3].

Stefan Engel und Erich Nassau: der Vernichtung entkommen

Ein Blick auf 90 Jahre Kinderärztliche Praxis ist auch ein Blick zurück auf 90 Jahre deutsche Pädiatrie mit allen Höhen und Tiefen und ein Spiegel der gesellschaftlichen Veränderungen in diesen Zeiten. Diese erschließen sich bei der Lektüre alter Kipra-Ausgaben nur indirekt, weil sich Herausgeber und Autoren gesellschaftlicher oder politischer Aussagen weitgehend enthielten. Eine genaue Analyse des subtilen Wandels von Einstellungen und Themen steht noch aus.

So ist in den Vorkriegsausgaben der Exodus der zahlreichen jüdischen pädiatrischen Wissenschaftler nur ansatzweise in den Tagesnachrichten zu erahnen, wenn Lehrstühle amtsenthobener Professoren oder Klinikdirektoren neu besetzt wurden. Dieses Schicksal traf 1933 auch die Gründer Engel und Nassau: Ersterer wurde der Leitung des nach seinen Plänen errichteten Städt. Kinderkrankenhauses ("Engelsburg") Dortmund enthoben, letzterer als Direktor der Kinderheilstätte Berlin Friedrichshain entlassen. Beide konnten der Vernichtung entkommen.

Der Tenor der Zeitschrift änderte sich deutlich, wenn auch fachlich-sachliche Themen im Vordergrund standen. Volksgesundheit und Rasseideologie gewannen gegenüber individueller Sorge um das kranke Kind an Bedeutung. Direkte Hinweise auf die Ausmerzung unwerten Lebens finden sich jedoch nicht. Kriegsbedingt wurde die Kipra Ende 1944 eingestellt.

Als die Kipra nach dreijähriger Pause 1948 wiedererschien, betonte der neue Herausgeber, Karl Klinke, Berlin, dass man sich denselben Zielen verpflichtet fühle wie die Gründer Engel und Nassau. Die Beiträge lesen sich, als wäre nichts geschehen. Es finden sich allenfalls Hinweise auf die Nachkriegs-Mangelsituation und deren Bedeutung für Säuglingssterblichkeit und Kindeswohl. Erst 1954 wurde im Impressum der inzwischen volkseigenen Kipra "begründet von Stefan Engel, London" erwähnt; Erich Nassau, der erst 1974 in Haifa stirbt, findet keine Erwähnung.

Zunächst dominierten noch gesamtdeutsche Beiträge, mit der Verhärtung der Ost-West-Polarisierung ist ein zunehmender Rückzug bundesrepublikanischer Autoren festzustellen. Die Folgeentwicklung führte zu einer zunehmenden Abgrenzung, vor allem aber einer fast gänzlich fehlenden Wahrnehmung ostdeutscher Publikationen der ganz nach den USA orientierten westdeutschen Pädiatrie, die die Kipra wie auch die DDR-Pädiatrie insgesamt etwas überheblich ignorierte. Es ist ein wichtiges wissenschaftliches Forschungs-Desiderat, die im Westen kaum erhältlichen Jahrgänge der Kipra nach ihren Inhalten zu analysieren. Hier sind noch Schätze zu heben.

Nach der Wiedervereinigung 1990 wurde der VEB Thieme Leipzig für den symbolischen Preis von 1 DM von der Treuhandanstalt an Thieme Stuttgart zurück übertragen und das ehemalige Leipziger Stammhaus 1992 geschlossen. Bei nachlassenden Abonnentenzahlen und dem Aufgehen der Gesellschaft für Pädiatrie der DDR in der DGKJ stellte der Verlag die "Kinderärztliche Praxis" ein. Der Wechsel zum Kirchheim-Verlag in Mainz wurde wesentlich von Hubertus von Voss, München, begleitet, der vom langjährigen Schriftleiter und ehem. Vorsitzenden der Gesellschaft für Pädiatrie der DDR, Wolfgang Plenert (1921 – 2000)[4], Jena, bereits seit 1988 in die Schriftleitung berufen worden war. Von Voss hatte bereits seit Mitte der 70er-Jahre gute Kontakte zur Pädiatrie der DDR und war sehr davon angetan, wie unter einfachen Verhältnissen engagiert und erfinderisch zum Wohle der Kinder gearbeitet wurde und bis heute unzureichend wahrgenommene Wissenschaft betrieben wurde.

Seit 1997 Organ der DGSPJ

Zum 1. Januar 1994 übernahm der Kirchheim-Verlag die "Kinderärztliche Praxis", um sie mit dem eigenen Titel "Sozialpädiatrie in der Pädiatrie" zu fusionieren zu "Sozialpädiatrie und Kinderärztliche Praxis". Seit 1997 erscheint sie unter dem Titel und Logo "Kinderärztliche Praxis: Zeitschrift für Soziale Pädiatrie und Jugendmedizin" als offizielles Organ der heutigen Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin (DGSPJ).

Von Voss gelang es u. a. durch den Kontakt mit der Tochter Stefan Engels, Eva Engel-Holland (1919 – 2013) [5], den Stefan-Engel-Preis ins Leben zu rufen, der, vom Kirchheim-Verlag gestiftet, alle 2 Jahre auf der Jahrestagung der DGSPJ für die beste wissenschaftliche Arbeit zu einem sozialpädiatrischen Thema vergeben wird.

Traditionsreiche sozialpädiatrische Zeitschrift

Heute ist die Kipra eine traditionsreiche sozialpädiatrische Zeitschrift, die mit Originalarbeiten, Übersichtsartikeln und Kasuistiken didaktisch ansprechende Fortbildung in allen Bereichen der Kinder- und Jugendmedizin für Pädiater in Praxis, Klinik, Sozialpädiatrischen Zentren und dem Öffentlichen Gesundheitsdienst bietet und mit dem Schwerpunkt "Public Health für Kinder" zur Stärkung der sozialpädiatrischen Kompetenz der praktizierenden Kinderärzte beiträgt.

Welche Wünsche bestehen für die Zukunft unserer Zeitschrift?

"Die Redaktion würde sich über mehr direkte Resonanz aus dem Leserkreis freuen, sei es mündlich oder als Leserbrief", schrieb 1980 Wolfgang Plenert, Direktor der Kinderklinik Jena und Herausgeber der Kipra von 1970 – 1992, in seinem Editorial zum 50-jährigen Bestehen der Zeitschrift, die seit 1973 Organ der Gesellschaft für Pädiatrie der DDR war. Das gilt auch heute noch, wobei die Kommunikation durch die elektronischen Wege heute wesentlich erleichtert ist und in jeder Ausgabe darauf hingewiesen wird. Eine Zeitschrift lebt von ihren Lesern!


Literatur
1 Engel S: "... leuchtet‘s lange noch zurück" Kirchheim, Mainz 2008
2 Czerny A: "Die Pädiatrie meiner Zeit" Springer, Berlin 1939, S. 18
3 Scholz A, Heidel CP: "Sozialpolitik und Judentum", Union Druckerei, Dresden 2000
4 Zu Wolfgang Plenert: Catalogus Professorum Rostochiensium, URL: http://purl.uni-rostock.de/cpr/00003239http://purl.uni-rostock.de/cpr/00003239

Korrespondenzadresse
© Angelika Zinzow
Dr. Stephan Heinrich Nolte

Alter Kirchhainer Weg 5
35039 Marburg/Lahn
Tel.: 0 64 21/16 22 66
Fax: 0 64 21/16 23 66

Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2020; 91 (5) Seite 316-318