Eine Prismenbrille kann eine hilfreiche Therapie, z. B. im Falle einer Pathophorie, darstellen. Vor Verordnung sollten andere in Frage kommende Ursachen vollständig abgeklärt werden.

Einleitung

Prismen haben wie Medikamente Wirkungen und Nebenwirkungen, bei richtiger Indikation unter Umständen einen großen Nutzen, bei falschem Einsatz können sie Risiken und Schäden bergen.

Grundlagen

Ein Prisma ist ein durchsichtiger Körper, der einen Strahlengang in einer Richtung ändert, "ablenkt", ohne die Refraktion zu beeinflussen, also ohne eine Korrektion einer Fehlsichtigkeit auszuüben. Ein Prisma lässt also – in kleinen Grenzen – "um die Ecke schauen" (Abb. 1).

Die Einheit dieser prismatischen Ablenkung ist cm/m (gleichbedeutend, aber veraltet: "Prismendioptrie"). Ein Prisma der Stärke 1 cm/m lenkt den Strahlengang in 1 m um 1 cm ab. 1 cm/m entspricht in etwa 0,6°, 1° in etwa 1,75 cm/m. Die Ablenkung erfolgt zur Breitseite, zur Basis hin (Abb. 2).

Die Angabe der Basis und damit der Ablenkungsrichtung erfolgt in der augenärztlichen und Brillenoptik nach dem TABO-Schema (Abb. 3).

Der Patient und das ihm aufgesetzte Brillenprisma werden dabei von vorn betrachtet. Eine Ablenkung des Strahlengangs nach oben durch die Prismenbasis oben entspricht nach TABO-Schema also 90 Grad, nach rechts (aus Patientensicht) 180 Grad. Letzteres entspricht dann beim rechten Auge einer Ablenkung nach außen, beim linken nach innen! 45 Grad bedeutet dann links oben in gleicher Größenordnung.

Jedes sphärische Brillenglas hat außerhalb des optischen Mittelpunktes eine prismatische Wirkung. Der optische Mittelpunkt eines Glases sollte daher (bis auf beabsichtigte Ausnahmen) vor der betrachtenden Pupille liegen (bei Gleitsichtgläsern ist dies aufgrund der gewünschten Dickenreduktion nicht der Fall, man nimmt also hier immer eine Bildqualitätsverschlechterung in Kauf). Die Ablenkung erfolgt nach der Prentice-Formel: Abstand vom optischen Mittelpunkt (cm) mal Glasstärke (dpt) = Ablenkung (cm/m). Dezentrierte Gläser oder schief sitzende Brillen produzieren immer eine prismatische Nebenwirkung! Dies spielt besonders bei Kindern mit seitendifferenten Glasstärken (="Anisometropie") eine Rolle: Hat z. B. ein Kind eine Glasstärke von rechts +2.0 und links +4.0 Dioptrien (dpt) und sitzt die Brille schief derart, dass es rechts 2,5 mm ober- und links 2,5 mm unterhalb des optischen Glasmittelpunktes durch das Glas sieht, entsteht eine prismatische Nebenwirkung von (2,5 + 2,5 = 5 mm = 0,5 cm) x (+4.0 -2.0 dpt = 2.0 dpt) = 1 cm/m höhenprismatische Abweichung, ein durchaus relevanter Wert, da er das Binokularsehen und dessen Entwicklung bereits stören bzw. zu einer Kopffehlhaltung führen kann. Die aktuelle Großbrillenmode ist nicht dazu geeignet, einen guten Brillensitz zu gewährleisten.

Die kindliche binokulare Sehentwicklung kann durch eine schlecht – insbesondere schief – sitzende Brille beeinträchtigt werden. Daher sollte der Arzt stets, insbesondere bei höheren Fehlsichtigkeiten oder Anisometropien, auf einen guten Brillensitz achten. Leider sind so viele Kinderbrillen schlecht angepasst, dass dies schon gar nicht mehr auffällt.

Indikationen von Prismen

Prismen zur Operationsvorbereitung

Der Augenarzt benutzt Prismen oder Prismenbrillen zur Operationsvorbereitung, zur Dosierung der Muskelverlagerung. Dies kann kurzfristig in der Praxis, mittelfristig mittels auf die eigene Brille aufgebrachten Prismenfolien oder anderem geschehen.

Prismen, Binokularsehen und Strabismus

Kleine latente ("versteckte", normal nicht sichtbare, nur mit Untersuchung zu findende) Schielwinkel werden bei normalem Binokularsehen ("funktionelles Schielen") vom Gehirn in der Regel ausgeglichen. Ansonsten gibt es sie entweder bei Kindern, die keine Binokularität haben, oder bei Kindern, deren Binokularsehen subnormal oder instabil ist. Dies kann sich in regelmäßig auftretenden Doppelbildern äußern, nämlich dann, wenn es zur "Dekompensation" kommt. In diesen Fällen kann eine Prismenbrille eine Alternative zur Schieloperation sein, allerdings nur in kleinen Grenzen, sinnvoll bis etwa 6 cm/m pro Seite, bis ca. 12 cm/m möglich. Meist wird man in diesen Situationen allerdings – eventuell nach einem Intervall mit prismatischer Korrektion – operieren, zumal der Schielwinkel in der Regel zu groß ist für eine Prismenbrille.

Latentes Schielen ("Heterophorie" = "Phorie") ist häufig, bei 85 % aller Menschen ist es nachweisbar. In den meisten Fällen wird dies vom Gehirn gut kompensiert. Latentes Außenschielen heißt "Exophorie" (ca 80 %), latentes Innenschielen "Esophorie". Latente Höhenschielformen ("Hyper-" oder "Hypophorie") haben ihre Ursache oft in schrägen Höhenschielformen, nach denen gesucht werden muss. Die Ursache insbesondere der horizontalen Phorien sind in aller Regel zentral, in einer Abweichung der Ruheinnervation der Augenmuskeln, zu suchen.

Prismen und asthenopische Beschwerden

Die Kompensation latenten Schielens kann bei einigen Kindern (auch Erwachsenen) das visuelle System überfordern und zu allerlei ("asthenopischen") Beschwerden führen, die allerdings nicht immer einfach zuzuordnen sind, da sie nicht spezifisch sind. Dies sind Kopfschmerzen, Augenschmerzen, Konzentrationsstörungen, Leseschwierigkeiten, Motivationsschwächen. Falls der Augenarzt eine latente Schielstellung findet und derartige Beschwerden angegeben werden, wird er zu allererst jedwede Fehlsichtigkeit (in erster Linie Weitsichtigkeit = "Hyperopie", aber auch Stabsichtigkeit = Zerrsichtigkeit = "Astigmatismus" und Kurzsichtigkeit = "Myopie") ausschließen bzw. – falls sie nicht winzig sind – mittels Brille exakt(!) ausgleichen. Dies reicht oft aus, asthenopische Beschwerden zu bessern. Asthenopische Beschwerden werden in erster Linie durch unkorrigierte Weitsichtigkeit hervorgerufen. Ähnliche Beschwerden entstehen – ebenfalls nicht so selten wie man annimmt – durch eine reduzierte Fähigkeit zum Nahscharfstellen ("Akkommodieren") (="Hypoakkommodation"). Falls dies alles nicht der Fall ist, ist ein kurzer und mittelfristiger Trageversuch mit Prismen zusätzlich zur vorhandenen Fehlsichtigkeit gerechtfertigt. Dies verbessert die Kompensationsfähigkeit bzw. unterstützt sie. Ein prismatischer Vollausgleich ist nicht immer nötig, manchmal sogar unangenehm, da eine Teilkompensation physiologischer ist als ein Vollausgleich. Eine Heterophorie, die asthenopische Beschwerden verursacht und deren prismatische Korrektion (oder deren operative Korrektur) diese bessert oder beseitigt, wird "Pathophorie" genannt.

Das geringste Prisma, welches Beschwerdefreiheit liefert, ist das richtige.

Prismenbrillen und "Winkelfehlsichtigkeit"

Konzentration, Lesefähigkeit, Motivation und Stereopsis können deutlich gebessert werden, allerdings sehr unterschiedlich von Fall zu Fall. Eine ganze Reihe von Tests sind notwendig, um abzuschätzen, ob das Kind eine solche Prismenbrille braucht bzw. ein Trageversuch sinnvoll erscheint. Die Abgrenzung zum Placeboeffekt ist nicht immer sogleich möglich. In Grenzfällen sollte man sich für den Prismenbrillentrageversuch entscheiden. Vorsicht ist gemahnt vor den Bestrebungen und Behauptungen einiger weniger Augenoptiker, die der Meinung sind, jedwede gefundene prismatische Abweichung müsse korrigiert und eine Prismenbrille verkauft werden (oft mit häufigem Glaswechsel, sprich Glasneukauf verbunden). Sie untersuchen meist nur mit einer einzigen Testmethode, finden nicht die richtige Fehlsichtigkeit, da sie nicht in Mydriasis untersuchen (können und dürfen), nennen ihr Testergebnis "Winkelfehlsichtigkeit" und sind meist nicht belehrbar. Sie berufen sich auf Einzelfallberichte, in denen entweder der Placeboeffekt wirksam war, oder eine tatsächlich vorhandene Pathophorie richtig erkannt und behandelt wurde.

Vor jede Entscheidung zu einer Prismenbrille – insbesondere bei Kindern – gehören eine genaue Refraktionsbestimmung mit Skiaskopie in Cycloplegie, Ausschluss einer Hypoakkommodation und von Paresen sowie Erhebung des Organbefundes.

Prismen und Binokularsehen

Manchmal dekompensiert ein funktionelles Schielen ohne Beschwerden. Hier ist unter anderem das "Intermittierende Schielen" zu nennen, bei dem zwar ein – meist subnormales – Binokularsehen vorhanden ist, aber in der Dekompensations- ("Abweich-") phase exkludiert, also kein Doppelbild wahrgenommen wird. Insbesondere bei kleinen Kindern kann ein häufiges Dekompensieren zu einer Verschlechterung des Stereosehens führen und das Gehirn dies "verlernen". Eine extreme Situation besteht beim "Normosensorischen Spätschielen", welches in der Regel plötzlich auftritt und nach anfänglichen Doppelbildern mit Exklusion und Binokularverlust einhergeht. Die Therapie besteht in der Regel in einer Schieloperation, in Einzelfällen kann man – ggf. nur überbrückend – auch mit einer Prismenbrille behandeln.

Können mit einer Prismenbrille Wahrnehmungs-/Teilleistungsstörungen wie die Legasthenie behandelt werden?

Eine Besserung der Fixierlinienruhelage kann Teilleistungsstörungen und dergleichen nicht heilen. Allerdings sollten Binokularstörungen nicht übersehen werden, da zusätzlich eine Pathophorie vorliegen kann und das Kind sich erfahrungsgemäß oft leichter tut, wenn zumindest das Binokularsehen keine Probleme bereitet. Auch ist es möglich, dass eine Pathophorie legasthiforme Beschwerden macht. Dann hat die Prismenbrille natürlich nicht eine Legasthenie geheilt, aber die Beschwerden können gebessert werden.

Nebenwirkungen von Prismen

Jedes Prisma hat – proportional zu seiner Stärke – optische Nebenwirkungen. Diese betreffen die Sehschärfe – pro Prismendioptrie als Glasprisma 2 % Visusverlust, außerdem Verzerrungen – unterschiedlich je nach Durchblickrichtung, Reflexzunahme und Farbfehler. Bei Erwachsenen wurden daher von der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft enge Grenzen für Autofahrer festgelegt. Eine bei Kindern scheinbar als positiv empfundene Nebenwirkung ist das Mikropsiephänomen, welches zentral durch die Beeinflussung des Akkommodations-Konvergenz-Zusammenspiels entsteht: Das (binokulare) Bild wird kleiner und dadurch scheinbar schärfer. Nicht optische Nebenwirkungen sind unter anderem die Glasdicke und das damit zusammenhängende nicht unerhebliche Gewicht einer Prismenbrille, welches durch den Einsatz hoch brechender Glasmaterialien günstig beeinflusst werden kann. Ein Folienprisma, welches bei Befundänderung rasch austauschbar und relativ preisgünstig ist, hat eine etwa doppelt so starke Visusherabsetzung, ganz abgesehen vom Aussehen und der Rillenstruktur.

Kontraindikationen für Prismenbrillen

Immer müssen als Differentialdiagnosen zur Heterophorie Paresen und organische Augenerkrankungen in Betracht gezogen werden. Schon deshalb gehört die Entscheidung zu einer Prismenbrille nicht in die Hände von Nichtmedizinern. Besonders bei Zunahme eines Schielens muss man insbesondere bei Kindern immer an tiefgreifendere Ursachen denken und die Motilität besonders exakt untersuchen.

Eine fälschlicherweise oder unnötig gefertigte schwache Prismenbrille verursacht in der Regel keine dauerhaften Nachteile. Wird eine Prismenbrille jedoch durch falsches Messen oder Berücksichtigung nur von Teilaspekten der Diagnostik "hochgetrieben", wie dies bei nicht erkanntem Mikrostrabismus möglich ist, kann man ein Schielen produzieren oder vergrößern. In der Literatur existieren Fallberichte, in denen Patienten in eine unnötige Operation getrieben wurden durch zu lange getragene zu starke Prismenbrillen. Meist ist es allerdings möglich, durch schrittweises Abbauen eines zu starken Prismas solch eine Operation zu umgehen.

Selbstverständlich stellen therapierbare Schielursachen, z. B. eine Abduzensparese durch einen Hirntumor oder eine Borreliose, eine Kontraindikation für eine Prismenbrille dar, sofern nicht die Ursache behandelt wird. Großwinklige funktionelle Schielformen sind keine eigentliche Kontraindiktion, sie sollten jedoch wegen der aufgeführten Nebenwirkungen besser operiert werden.

Wesentliches für die Praxis . . .
  • Eine Prismenbrille kann eine hilfreiche Therapie z. B. im Falle einer Pathophorie darstellen.
  • Vor Verordnung einer Prismenbrille sollte eine vollständige Abklärung anderer in Frage kommender Ursachen erfolgen.
  • Echte Kontraindikationen sind selten, aber dann bedeutsam.
  • In den meisten Fällen von Heterophorie, insbesondere, wenn keine ­asthen­opischen Beschwerden und dergleichen vorliegen, ist keine Prismenbrille erforderlich.

Weiterführende Literatur
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Korrespondenzadresse
Dr. Ernst Höfling

Putzbrunner Straße 29
85521 Ottobrunn

Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2012; 83 (6) Seite 364-367