"Insbesondere im Zeitalter von Corona ist es dringend notwendig, die sich derzeit festsetzenden Maßnahmen im Rahmen von Hygiene und Gesundheit kritisch zu überprüfen und unter umweltökologischen Aspekten zu betrachten", appelliert Kinderarzt Stephan Nolte - und nennt Beispiele und Alternativen.

Eine interessante Kampagne wurde kurz vor dem Corona-Ausbruch am Great Ormond Street Hospital (GOSH), Englands renommiertester Kinderklinik, ins Leben gerufen: "The gloves are off", deutsch frei übersetzt: "Weg mit den Handschuhen!" [1]. Im Englischen hat der Begriff: "gloves are off" auch noch eine übertragene Bedeutung, die man im Deutschen etwa mit "nicht mit Samthandschuhen anfassen", also Klartext reden, übersetzen könnte.

In Großbritannien wurden schon vor Corona jährlich im gesamten National Health Service 1,4 Milliarden unsterile Handschuhe verwendet. Der Einsatz ist in vielen Fällen nicht nur unnötig, sondern, wenn diese nicht wie die Hände gewaschen werden, unhygienisch. Saubere Hände sind besser, sowohl für Patienten als auch für die Mitarbeiter. Allenfalls wenn man mit Körperflüssigkeiten oder nicht intakter Haut oder Schleimhaut zu tun hat, können Handschuhe in Frage kommen.

Pro Woche wurden allein im GHOS rund 200.000 Paar Handschuhe verbraucht. Langes Handschuhtragen ist die Hauptursache für Hauterkrankungen, die den größten Anteil unter den Berufskrankheiten im Gesundheitswesen einnehmen. Aber nicht nur Handschuhe, auch andere Verbrauchsmittel wurden kritisch hinterfragt.

Bereits nach einem Jahr konnten etwa 21 Tonnen Kunststoff eingespart werden. Die Hände der Mitarbeiter wurden gesünder, wie viele Mitarbeiter durch "vorher – nachher" Fotos zeigen konnten. Insgesamt eine außerordentlich erfolgreiche und nachahmenswerte Aktion. Der zwischenmenschliche Aspekt ist auch nicht zu vernachlässigen: Wer möchte schon gerne mit Plastikhandschuhen angefasst werden? Wir sollen doch behandeln, also Hand anlegen – aber bitte ohne Handschuhe!

Nur – wer will im Corona-Zeitalter davon etwas hören? Der gewaltige Verbrauch von Einmalhandschuhen und weiterer Schutzkleidung soll zusammen mit einem errechneten Bedarf von bis zu 12 Milliarden(!) Atemschutzmasken pro Jahr zu einem Müllaufkommen von 1,1 Millionen Tonnen pro Jahr führen, das wären etwa 7 % der gesamten Hausmüllmenge Deutschlands, die zusätzlich entstehen würden, errechnete das Hamburger Umweltinstitut schon im Mai [2]. Wenn man sieht, was eine Intensivstation heute an Müll produziert und wie wir auch in den Praxen aus vorgeblich hygienischen Gründen immer mehr Einmalmaterial verwenden müssen, wie kopflos eine Verpackung nach der nächsten aufgerissen und anschließend entsorgt wird, wie teuerste und hochwertigste Verbundkunststoffe, wie Dialysatoren, nach einmaligem Gebrauch weggeworfen werden müssen, kann man am Verstand solcher Praktiken zweifeln.

Insbesondere im Zeitalter von Corona ist es dringend notwendig, die sich derzeit festsetzenden Maßnahmen im Rahmen von Hygiene und Gesundheit kritisch zu überprüfen und unter umweltökologischen Aspekten zu betrachten. Davon redet derzeit niemand. Dabei könnten seitens der Hersteller durchaus nur solche Materialien eingesetzt werden, die in biologische Kreisläufe zurückkehren. Aber in der Zeit künstlicher Verknappung von Hygieneartikeln redet niemand davon. Gesundheit, Wirtschaft und Umwelt werden, wie immer, gegenseitig ausgespielt.


Literatur
1. https://www.gosh.nhs.uk/news/gloves-are-off
2. http://www.hamburger-umweltinst.org/


Dr. Stephan H. Nolte, Marburg/Lahn


Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2021; 92 (3) Seite 148