"Das Leben ist nicht schmerzfrei. Wir Pädiater haben eine große Verantwortung, weil die Weichen zum Umgang mit Schmerzen im Kindesalter gestellt werden", sagt Dr. Stephan Nolte in seiner Praxiskolumne.

Der Schmerz ist ein Warnsignal und deshalb für unser Leben und Überleben von großer Bedeutung. Fehlt dieses Alarmsystem, kommt es zu schweren Gesundheitsgefährdungen bis hin zum Tode. So werden bekanntlich die Verstümmelungen bei Lepra nicht durch die Krankheit, sondern die fehlende Schmerzwahrnehmung und die dadurch resultierenden nicht heilenden Verletzungen verursacht. Die diabetische Neuropathie führt ebenfalls dazu, dass Verletzungen oder Entzündungen nicht bemerkt und daher nicht behandelt werden. Schmerz ist das, was individuell als Schmerz erkannt wird, aber als subjektives Erleben schlecht vermittelbar ist. Je jünger das Kind, desto schwieriger ist es, das Ausmaß von Schmerzen abzuschätzen. Auch sind deren Ausdrucksformen begrenzt: Kinder schreien oder wimmern, was den Umgang mit Schmerzen noch erschwert.

Ein Kind soll nicht unnötig leiden, aber es muss auch mal Schmerzen aushalten können. Das Leben ist nicht schmerzfrei. Die Diskussion um eine Reduktion von Schmerzen bei der Impfung ist abwegig: "Kurz und schmerzlos" soll sie erfolgen, aber nicht mit Lokalanaesthesie durch Sprays oder Cremes, die ohnehin keine Tiefenwirkung haben. Das ganze Drumherum ist viel schlimmer und viel aufwendiger als ein kleiner Piks und verstärkt nur die Erwartungsangst – und damit die Schmerzen. Dass etwas Süßes den Schmerz erleichtert, ist so altbekannt, dass es absurd erscheint, wenn eine Pharmafirma jetzt Glukoselösung zur Schmerzreduktion vermarktet – warum dann nicht gleich Globuli, die auch nur Saccharose enthalten, und auch ohne arzneilichen Wirkstoff erhältlich sind?

Was uns in der Praxis aber am meisten beschäftigt, sind die diffusen, chronisch-rezidivierenden Schmerzen von Schulkindern und Jugendlichen, die mit Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, Rückenschmerzen oft eine endlose Karriere sinn- und ergebnisloser Untersuchungen hinter sich haben. Je nach Strickmuster ihres Arztes werden sie dann behandelt: Allergie, Helicobacter, Laktose .... Dabei sind die Kriterien der Abgrenzung somatischer von somatoformen Schmerzen recht eindeutig.

Wichtig ist: Das Kind hat und erlebt das Alarmsignal Schmerzen. Dabei ist es sinnlos zu diskutieren, ob sie echt und wirklich da sind. Auf welcher Ebene sich die Lösungsversuche der Schmerzbehebung auch bewegen mögen, immer sind sie ernst zu nehmen. Ein Symptomkalender, prospektiv geführt, klärt, wann genau die "immer" berichteten Schmerzen auftreten. Eine eingehende psychosoziale Anamnese, ruhig mit der direkten Ansprache: "Was macht dir denn Bauchweh?", ist unverzichtbar. Kinder leiden sehr unter den unterschiedlichsten Belastungssituationen, denen sie nur – und sehr viel unverblümter als Erwachsene – über den Schmerz Ausdruck verleihen können. Dennoch wichtig: Der Alltag sollte, so gut es geht, fortgesetzt werden, Fehlzeiten führen in einen Teufelskreis.

Bereits in der 4. Auflage ist das Buch "Rote Karte für den Schmerz – Wie Kinder und ihre Eltern aus dem Teufelskreis chronischer Schmerzen ausbrechen", von Michael Dobe und Boris Zernikow erschienen. Mit ihrer langjährigen Erfahrung geben die Autoren allgemeinverständliche Tipps zum Umgang mit chronischen Schmerzzuständen. Ich vermisse zwar darin etwas den Aspekt der Angst als Schmerzauslöser und -unterhalter. Dennoch kann dieses Buch Eltern zur Lektüre empfohlen werden. Es ist von einer sehr menschlichen Sichtweise geprägt und enthält praktische und konkrete Informationsblätter für Eltern, Erzieher oder Lehrer.

Wir Pädiater haben eine große Verantwortung, weil die Weichen zum Umgang mit Schmerzen im Kindesalter gestellt werden. Der Mensch wird unter Schmerzen geboren und wird mit Schmerzen leben und sterben müssen – auch das will frühzeitig gelernt sein.



Autor:
Dr. Stephan H. Nolte, Marburg/Lahn


Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2018; 89 (1) Seite 6