Die Corona-Epidemie ist auch als Chance zu sehen - für Eltern und Kinder, findet Kinderarzt Dr. Markus Landzettel, und nennt Beispiele dazu.

Die Corona-Epidemie hat zahlreiche Reglementierungen für Kinder und Jugendliche ausgelöst: Sportangebote wurden gestrichen, Kontaktmöglichkeiten eingeschränkt, Vorstellungen in den verschiedenen Ambulanzen der Kinderkliniken abgesagt, verschoben oder zumindest auf ein Minimum reduziert. Der Aufenthalt im Freien wurde eingeschränkt, die Wege zur Schule, zum Sportverein etc. entfielen lange Zeit. Zudem kamen neue Herausforderungen wie das Home-Schooling, oft parallel zum Home-Office der Eltern dazu. Hier waren familiärer Stress und emotionale Ausnahmesituationen vorauszusehen.

So war die weitere gesundheitliche Entwicklung – insbesondere von Patienten mit Übergewicht und Adipositas – schwer voraussagbar. In meiner Kinderarztpraxis zeigten sich hierzu ganz unterschiedliche Effekte. Es gab Kinder und Jugendliche,
  • die mit ihrer Erkrankung ziemlich allein gelassen wurden;
  • die u. a. mangels digitaler Endgeräte (für den Online-Unterricht) ihre schulischen Aufgaben vernachlässigten;
  • die wegen der nun spürbaren Enge der Wohnsituation häufiger in familiäre Auseinandersetzungen verbaler und auch handgreiflicher Art gerieten;
  • die keine ausreichenden Rückzugsmöglichkeiten hatten, denen die sozialen Kontakte wegbrachen und die diesen Verlust nicht im Ansatz mit der Benutzung der digitalen Messenger-Programme kompensieren konnten. Dafür nutzten sie in hohem Maße Streaming-Dienste für Filme und Serien und vernachlässigten die noch bestehenden Sozialkontakte.

Diese Handicaps kamen in unterschiedlicher Kombination und Ausprägung vor und führten so fast zwangsläufig zu einer erhöhten Nahrungsaufnahme und zu verringerter körperlicher Aktivität.

Zum anderen beobachteten wir aber auch solche Kinder und Jugendliche,
  • bei denen sich ihre Eltern – trotz oder gerade aufgrund des Home-Office – mehr Zeit nehmen konnten, die Grunderkrankung besser als zuvor zu begleiten;
  • die unser Angebot mit Telefonberatung und E-Mail-Korrespondenz nutzten, um ihre Anliegen, ihre Sorgen mitzuteilen;
  • die mit den notwendigen digitalen Endgeräten ausgestattet waren, um neben der Schule auch den Kontakt zu Gleichaltrigen oder Verwandten einigermaßen aufrechtzuhalten. Einigen Großeltern wurde in dieser Zeit z. B. das Skypen beigebracht;
  • die mit der Familie wieder gemeinsame Aktionen und Erlebnisse wertschätzten und gemeinsam kochten, spazieren gingen, Filme schauten und spielten.

In diesen Fällen war die Enge dann eher als Nähe wahrnehmbar, die sich positiv auswirkte.

Wie lautet nun das Fazit aus diesen Beobachtungen in der kinderärztlichen Praxis? Auf jeden Fall ist eine ausreichende Versorgung der Kinder und Jugendlichen mit digitalen Endgeräten zu gewährleisten, damit alle am Online-Unterricht teilnehmen können.

Des Weiteren ist zu gewährleisten, dass Kinder und Jugendliche mit chronischen Erkrankungen bei Epidemien oder Pandemien in den Kinderarztpraxen und den Ambulanzen der Kinderkliniken kontinuierlich und verlässlich weiter ausreichend betreut werden können, auch im Kampf gegen die Adipositas. Der Angst vor Ansteckung aufseiten der Patienten muss durch geeignete organisatorische Maßnahmen entgegengewirkt werden.

Und schließlich: Die Corona-Epidemie ist auch als Chance zu sehen, die jeder wählen, schaffen und gestalten kann. Nicht nur für die Eltern, sondern gerade auch für die Kinder. So nutzten manche die Zeit auch, um an ihrem Körper zu arbeiten und konnten ihr Gewicht reduzieren. Einige Kinder und Jugendliche haben sich in die Gemeinschaft eingebracht, indem sie für ältere Menschen in der Nachbarschaft eingekauft haben etc. Aus den Reglementierungen sind neue Regeln erwachsen, die auch nach Abklingen der Pandemie beibehalten werden sollten.


Dr. Markus Landzettel, Darmstadt


Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2020; 91 (6) Seite 92