Vor 80 Jahren, im Jahr 1938, wurde den deutschen Kinder- und Jugendärzten jüdischen Glaubens die Approbation entzogen. Kinderarzt Markus Landzettel erinnert an die dunkle Vergangenheit und appelliert auch an die großen pädiatrischen Gesellschaften, Signale zu setzen.

»Ein bisschen Salonantisemitismus, etwas politische und religiöse Gegnerschaft, Ablehnung des politisch Andersdenkenden, an sich harmloses Gemengsel, bis ein Wahnsinniger kommt und daraus Dynamit fabriziert. Man muss die Synthese begreifen, wenn Dinge, wie sie in Auschwitz geschehen sind, in Zukunft verhütet werden sollen. Wenn Hass und Verleumdung leise keimen, dann, schon dann heißt es wach und bereit sein. Das ist das Vermächtnis derer von Auschwitz.«

Zitat der jüdischen Kinderärztin Lucie Adelsberger (1895 – 1971), die die Vernichtungslager Auschwitz und Ravensbrück überlebte.


In diesem Jahr jährt sich die dunkelste Vergangenheit in der Kinderheilkunde zum 80. Mal. Im Jahr 1938 wurden den deutschen Kinder- und Jugendärzten jüdischen Glaubens die Approbation entzogen. Dies war die nächste Stufe der Vernichtung von Menschen, die geächtet, verfolgt und vernichtet wurden. Spätestens seit den Novemberprogromen muss es der übrigen Bevölkerung klar gewesen sein, was für ein Schicksal den Mitbürgern jüdischen Glaubens bevorstand und welche Schuld das deutsche Volk auf sich laden wird.

Dabei fingen die Diffamierung und der Ausschluss der jüdischen Mitbürger schon viel früher an. Ab 04/1933 wurden neben den jüdischen Geschäften auch Arztpraxen boykottiert. Es standen SA-Wachen vor den Eingängen, um zu verhindern, dass arische Patienten dort vorgestellt werden konnten. Dann verloren die jüdischen Ärzte sämtliche Kassenzulassungen und konnten nur noch im Verborgenen arbeiten. Das Staatsexamen konnte nur noch von arischen Ärzten abgelegt werden, die Approbation wurde jüdischen Ärzten verwehrt. Nach Erlass der Nürnberger Gesetze verschärften sich die Bedingungen für die jüdischen Ärzte noch einmal drastisch: Es wurde sämtliches Vermögen beschlagnahmt. Es durften auch keine öffentlichen Einrichtungen mehr benutzt werden. Es folgte 1940 der Ausschluss aus der Krankenversicherung und 1941 die Einführung des Judensterns sowie ein Auswanderungsverbot. Wer es bis zu diesem Zeitpunkt nicht geschafft hatte, ins Ausland zu fliehen, hatte ein hohes Risiko – durch Deportationen in die Vernichtungslager –, sein Leben zu verlieren.

Dies war auch eine nützliche Gelegenheit für solche Kinderärzte, die sich der jüdischen Konkurrenz entledigen wollten. Die verbliebenen arischen Kinder- und Jugendärzte waren darüber hinaus dann auch noch an den Gräueltaten der "Kinder-Euthanasie" beteiligt.

Es war ein herber Verlust für die Kinderheilkunde! Kinderärzte und Kinderärztinnen jüdischen Glaubens haben bedeutende und wichtige Beiträge für die Kinderheilkunde geleistet. Durch die gewonnenen Erkenntnisse in Hygiene und Säuglingsernährung wurde die Säuglingssterblichkeit drastisch reduziert. Die Sozialpädiatrie wurde durch die Nationalsozialisten wieder abgeschafft und mühsam nach dem Krieg wieder aufgebaut. Jüdische Kinderärzte waren auch an der Gründung vieler Kinderhospize und Kinderkliniken beteiligt. Mehr als jedes andere Fachgebiet hat die Kinderheilkunde von diesen Kinderärzten profitiert.

Was ist nun das Fazit für heute? Angesichts der wieder zunehmenden Feindseligkeit anderen Minderheiten gegenüber, dem Zuwachs an Antisemitismus und antimuslimischen Einstellungen, dem Einzug rechtsradikaler Politiker in den Deutschen Bundestag sei an das Grundgesetz erinnert:

"Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden."

Es würde den großen pädiatrischen Gesellschaften also gut stehen – ähnlich wie die Bundesligavereine (Eintracht Frankfurt, Mainz 05, Darmstadt 98 und St. Pauli) – darauf hinzuweisen, dass man nicht Mitglied dieser pädiatrischen Gesellschaften sein kann, wenn man rechtsradikales Gedankengut vertritt. Nach dem unfassbaren vorauseilenden Gehorsam, die jüdischen Kolleginnen und Kollegen hinwegzufegen und nach Berlin dem Führer stolz die "judenfreie" Pädiatrie zu vermelden, wäre dies ein wichtiges Signal auch für die gesamte Bevölkerung.Dr. Markus Landzettel/Darmstadt

Dr. Markus Landzettel, Darmstadt


Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2018; 89 (2) Seite 78