Haben Kindesmisshandlungen, sexueller Kindesmissbrauch und Vernachlässigung im pandemiebedingten Lockdown eher zu- oder abgenommen?

Um genauere Aussagen über die Häufigkeit und Schwere von Gewalt gegen Kinder während des Lockdowns zu treffen, wurden die in deutschen Kinderkliniken und Kinderschutzambulanzen dokumentierten Kinderschutzfälle während der ersten 2 Monate des pandemiebedingten Lockdowns von einem großen Autorenteam analysiert und in der Monatsschrift Kinderheilkunde veröffentlicht. Mittels eines Onlinesurveys wurden in einer Vollerhebung deutschlandweit kinderversorgende Kliniken und Ambulanzen zur Entwicklung der Kinderschutzfälle während des COVID-19-Lockdowns befragt. 343 Kinderkliniken und medizinische Kinderschutzambulanzen wurden zur Onlinebefragung eingeladen; die Teilnahmequote lag bei 46 %. Gefragt wurde nach der Art der Einrichtung (Ambulanz/Kinderklinik) und nach der Anzahl von Kinderschutzfällen differenziert nach Alter, Gewaltform und Schweregrad im März/April 2019 und 2020.

Daraus resultierten folgende Erkenntnisse: Von den 159 teilnehmenden Kliniken und Ambulanzen aus allen 16 Bundesländern boten 120 (75 %) stationäre und 68 (43 %) ambulante Versorgung im Bereich des medizinischen Kinderschutzes an, 29 Einrichtungen (18 %) boten sowohl ambulante als auch stationäre Versorgung an.

Die Einrichtungen berichteten für März und April 2019 von insgesam1.118 Kinderschutzfällen. Im März und April 2020 wurden insgesamt 702 Kinderschutzfälle dokumentiert. Das ergibt ein Minus von 37 %. Der deskriptive Vergleich nur der Einrichtungen, die ihre Fallzahlen für beide Zeiträume angaben, ergab zwischen 2019 und 2020 eine Verringerung von 15 % der Kinderschutzfälle im ambulanten bzw. 20 % im stationären Bereich. Hinsichtlich der Altersgruppen und der Formen der Gefährdung fanden sich keine signifikanten Unterschiede.

Kommentar: Die Daten täuschen. Sehr wahrscheinlich hat das Stressniveau während der diversen Lockdowns für Kinder und Eltern deutlich zugenommen. Und so ist auch eher davon auszugehen, dass Kinder in dieser Zeit wegen Überforderung, finanzieller Sorgen, der erschwerten Vereinbarkeit von Kinderbetreuung und Homeoffice, und damit der Auflösung eingespielter familiärer Abläufe vermehrt Gewalt erfahren haben. Diese Vergehen an Kindern sind in Zeiten des „social distancing“ nur vom Umfeld weniger wahrgenommen und an die Behörden seltener gemeldet worden. Dies zeigt, wie trügerisch statische Daten sein können.


Raimund Schmid