Darüber, ob funktionelle Therapien und Heilmittel bei Kindern und Jugendlichen nach dem Motto "Viel hilft viel" eingesetzt werden sollten, gibt es durchaus kontroverse Ansichten. PD Dr. Heike Philippi vertritt die Contra-Position zu dieser These und findet "Weniger ist mehr". Frau PD. Dr. med Kristina Müller vertritt in Ihrem Beitrag die Pro-Position.

Zu diesem Thema bewähren sich 3 Leitsätze:
  1. Weniger ist mehr
  2. Man muss viel wissen, um das wenig Wichtige und Richtige zu tun und
  3. Kinder und ihre Eltern in die Mitwirkung gebracht, ergibt sich von ganz alleine das richtige, "natürliche" Maß an Therapie.

Ja, um Effekte zu haben, bedarf es der Wiederholung, damit sich neu Gelerntes festigt. Um entscheiden zu können, ob eine hohe Therapieintensität gerechtfertigt ist, muss betrachtet werden, welcher Effekt auf welcher Ebene erwartet werden kann. Dies können Effekte auf Körperstrukturebene (z. B. die Fußgelenke sind beweglich), auf Funktionsebene (z. B. das Abrollen des Fußes beim Laufen gelingt) oder auf Aktivitätsebene (z. B. das Laufen gelingt) sein. Die meisten Therapiestudien weisen Effekte rein auf der funktionellen oder der Aktivitätsebene nach. Die wichtigste Betrachtungsebene wäre jedoch die der Teilhabe im täglichen Alltag (z. B. das Laufen vom Besuch des Freundes in der Nachbarschaft nach Hause gelingt).

Eine intensive Therapie ist nur gerechtfertigt, wenn sie einen Mehrwert für das Kind in seiner Lebenswelt hat, d. h., dass sich das Kind über seinen Erfolg im Alltag freuen kann. Eventuell freuen sich Eltern nach einem intensiven funktionellen Lauftraining über 3 Wochen darüber, dass ihr Kind 2 Monate früher zum freien Laufen kommt. Ob dies auf die Lebensspanne gesehen für das Kind im Alltag bedeutsam und freudvoll ist, muss mit den Eltern vorher eingehend kritisch geprüft werden. Es müssen die Effekte eines Intensivtrainings zudem dahingehend überprüft werden, welchen Preis und Aufwand die Familie aufwenden musste. Möglicherweise mussten 3 Geschwister während dieser Zeit wieder einmal fremdbetreut werden und die Mutter sich unbezahlten Urlaub nehmen, obwohl die Familie finanziell knapp dasteht. Aufwand und zu erwartender Effekt müssen zum Wohle von Kind und Familie sorgfältig in einem gemeinsamen Gespräch abgewogen werden.

Persönliche Bedürfnisse erkennen und gemeinsam Ziele erarbeiten

Die Zuordnung von Aufwand und die Effekte auf den verschiedenen Ebenen könnten durch Zuordnung zu den 5 wichtigen Komponenten der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) – Körperfunktionen, Körperstrukturen, Aktivitäten und Teilhabe (Lebensbereiche), Umweltfaktoren und personenbezogene Faktoren – helfen, um im Zwiegespräch mit Kind und Eltern alle Aspekte zu ordnen und zueinander in Bezug zu setzen. Dabei würden dann die persönlichen Bedürfnisse und Bedarfe von Kind und Eltern in den Fokus kommen. Darüber wiederum könnten Kinder und Eltern in die aktive Rolle kommen, mitzuentscheiden, und ganz persönlich bedeutsame Ziele auf Teilhabeebene gemeinsam erarbeitet werden, für die sie auch ausreichend motiviert wären, sich in einem Intensivtraining anzustrengen.

Die positive Motivation würde dann in zweierlei Hinsicht den wissenschaftlichen Erkenntnissen auf dem Gebiet der Neurowissenschaft entsprechen: Erstens würde die hohe Motivation durch die selbstformulierten Alltagziele, den Transfer von der Therapiestunde in den Alltag bewirken und auch das notwendige Maß der hohen Repetition der Übungen, die dann zu Tätigkeiten des Alltags würden, sichern. Ein Kind, dass Dreirad fahren lernen möchte, wird sich von selbst anstrengen, die eher langweiligen "Vorbetätigungen", z. B. "Treten üben auf einem Standfahrrad" ausreichend oft zu machen. Die Eltern könnten die Motivation noch steigern, indem sie die Anschaffung eines besonderen Dreirads z. B. "Typ Rosa wie Lillifee" in Aussicht stellen. Durch diese positive Stimmung käme Freude und Spaß beim Kind für das Trainieren auf, das aus neurowissenschaftlicher Sicht ein Hauptgarant für nachhaltigen Erfolg ist.

Die Schaffung einer solchen kind- und familienzentrierten funktionellen Therapie fordert von den Therapeuten neue Fähigkeiten. Die Therapeuten müssten in der Gesprächsführung dahingehend geschult werden, dass sie die Bedürfnisse, Themen und Ziele dem Kind (ab 4 – 5 Jahren direkt, vorher indirekt über die Eltern) und getrennt davon den Eltern entlocken und bei Dissens in einen Konsens bringen können. Die Therapeuten müssten lernen, in den Dimensionen der ICF zu denken und dann ein kleinschrittiges, alltagsbezogenes Betätigungsprogramm gemeinsam mit dem Kind und den Eltern aufzustellen. An einem Beispiel möchte ich dies verdeutlichen.

Fallbeispiel

Wichtige Info auf der Ebene der Körperstrukturen

Tina ist ein 12 Jahre altes, geistig gut entwickeltes Mädchen mit einer bilateralen spastischen Zerebralparese GMFCS-Level III. Im frühen Kindesalter wurde bei ihr auf private Kosten der Eltern eine selektive dorsale Rhizotomie in den USA durchgeführt.

Wichtige Info auf der Ebene der Körperfunktionen

Das bedeutet, dass Tina nun keinerlei Spastik an der unteren Extremität hat, dafür aber eine ausgeprägte Schwäche.

Wichtige Infos auf der Ebene der Umweltfaktoren

Tinas Eltern sind sehr engagiert und verfügen über ein mittleres Einkommen. Tina hat noch einen Bruder. Seit 12 Jahren erhält sie regelmäßig verschiedene Arten von Physiotherapie 1 – 2 x/Woche und nahm 5 x an mehrwöchigen stationären Rehabilitationen teil. Von der Mutter wird sie täglich morgens und abends zu Übungen aller Art angehalten, ein Motomed und ein Galileogerät stehen zu Hause zur Verfügung.

Wichtige Infos auf der Ebene der Aktivitäten und Teilhabe (Lebensbereiche)

Tina wird morgens mit dem Privat-PKW zur Schule gefahren und läuft in der Schule mit 3-Punkt-Stöcken. Im Klassenraum angekommen ist sie häufig erschöpft. Der Rollstuhl steht zu Hause. Bei allen Freizeitaktivitäten, z. B. einem Kinobesuch, wird sie von ihrer Mutter begleitet.

Wichtige Infos auf der Ebene der Person Tina (personbezogenen Faktoren)

Tina sind gemeinsame Erlebnisse mit ihren Freundinnen wichtig. Sie hat eher wenig Lust auf Sport und geht lieber ins Kino.

Gespräche und Ziele

Nach mehreren gemeinsamen und einzelnen Gesprächen zwischen Tina, ihren Eltern, der Therapeutin und der Ärztin ergab sich Folgendes:
  • Das Ziel der Eltern lautet: "Tina läuft so wie andere Mädchen frei und mit einem normalen Gangbild"
  • Das Ziel einiger Physiotherapeutinnen und der Rehabilitationen lautet: "Gangbildverbesserung"
  • Das Ziel von Tina lautet: "Alleine mit den Freundinnen ins Kino gehen und alleine aufstehen können, wenn Sie draußen hinfällt"

In einem von der Therapeutin moderierten Runden-Tisch-Gespräch in vertraulichem Rahmen wurden diese Ziele unter allen Beteiligten öffentlich gemacht und über den Handlungsplan verhandelt.

Tina traute sich zu äußern, dass sie sich oft schäme, weil sie die Erwartungen ihrer Eltern nicht erfülle, die sie so gut unterstützten. Der Vater traute sich zu äußern, dass er nach all den Aufwendungen mit OP in den USA nicht akzeptieren könne, dass sich das Gangbild nicht normalisiere. Die Mutter traute sich zu äußern, dass sie von den Vorstellungen ihres Mannes und dem Schamgefühl ihrer Tochter bisher nichts wusste und jetzt sehr betroffen und nachdenklich sei.

Schließlich konnte folgender Handlungsplan ausgehandelt werden:

Tina erhält jetzt im Rahmen der Physiotherapie Rollstuhltraining, damit sie zukünftig alleine mit ihren Freundinnen ins Kino gehen kann. Zudem übt sie in der Physiotherapie Strategien, wie sie alleine aufstehen könnte und geht 1 x /Woche zum Kraftaufbau in ein Fitnessstudio mit einer Freundin wo sie unter Anleitung einer Physiotherapeutin trainiert. Die Eltern beschlossen, ins Gespräch miteinander zu gehen, um ihre Sichtweisen über Tina auszutauschen.

Wesentliches für die Praxis . . .
  • Wir müssen viel über die Kinder in Erfahrung bringen, um das wenige Wichtige und Richtige zu tun.
  • Wir müssen das Kind in seinem Umfeld verstehen lernen und in eine aktive Rolle bringen.
  • Wir müssen die Eltern auf diesem Weg mitnehmen und auch in eine aktive Rolle bringen.


Korrespondenzadresse
PD Dr. med Heike Philippi

Ärztliche Leiterin
Sozialpädiatrisches Zentrum Frankfurt Mitte
Theobald-Christ-Straße 16
60316 Frankfurt am Main
Tel.: 0 69/9 43 40 95 20
Fax: 0 69/9 43 40 95 99

Interessenkonflikt: Die Autorin gibt an, dass kein Interessenkonflikt in Zusammenhang mit diesem Beitrag besteht.


Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2019; 90 (4) Seite 279-280