"Ein Lob den Müttern und Hebammen. Doch wo bleibt die pränatale Transition?", fragt Dr. Stephan Nolte. Die pränatale Transition als Prävention haben Kinderärzte noch nicht genug auf dem Schirm, findet er.

In letzter Zeit sehe ich auffällig viele Säuglinge, die bei der U3 fast 5 kg wiegen, die Eltern sind – auch beim ersten Kind – fröhlich und entspannt, das Stillen klappt.

Früher hatte ich beim U3-Termin eher mit hohläugigen unausgeschlafenen Müttern und genervten Vätern zu tun, mit einem Eiertanz um jedes Gramm Gewichtszunahme, sodass außer dem, was bei der U3 eben zu machen ist, kaum irgendetwas besprochen oder erklärt werden konnte. Sogar nach Kaiserschnitt, auch wenn die Mütter am 3. Tag entlassen werden, klappt das Stillen in der Regel. Früher habe ich beim ersten Kind nach Sectio kaum je erfolgreiches Stillen gesehen, und das bei 10 bis 14 Tagen Klinikaufenthalt.

Die Mütter entbinden zunehmend außerklinisch oder ambulant, bei der U2 haben viele das Geburtsgewicht schon wieder erreicht, Gelbsucht ist selten, und wenn, nicht schlimm.

Was hat sich geändert? Habe ich eine "Positiv-Auslese?"

Nein, die Kollegen berichten dasselbe. Ich führe diese außerordentlich positive Entwicklung auf eine gestiegene "awareness" zurück, und vor allem auf die ausgezeichnete und engagierte Betreuung, die die Hebammen leisten. Ihnen gelten meine Anerkennung und mein Lob. Sie leisten eine vorbildliche "aufsuchende Betreuung", besuchen die Kinder wenn nötig zweimal täglich und stehen Tag und Nacht für die kleinsten Fragen und Problemchen zur Verfügung.

Aber wie lange noch? Während es hier in der Stadt noch recht günstig aussieht, hat sich auf dem Lande die Hebammenversorgung erheblich ausgedünnt. Schon bei Bekanntwerden der Schwangerschaft sucht man sich in der Regel eine Hebamme. Es ist längst Vergangenheit (oder sollte es sein), dass die Eltern bei der Entlassung aus der Geburtsklinik keine Hebamme angeben können.

Es ist auch unsere Aufgabe, bei Infoabenden für Schwangere auf die Notwendigkeit der Weiterbetreuung nach der Geburt – durch eine Hebamme und durch Kinder- und Jugendärzte – hinzuweisen. Das ist vor allem deshalb notwendig, weil viele Eltern sich vor der Geburt noch nicht mit der Suche nach einem Kinderarzt beschäftigt haben und nach so mancherlei Odysseen durch allgemeine Notdienste oder Klinik-Notaufnahmen erstmalig bei der U3 kommen – wenn das Kind vielleicht schon "in den Brunnen gefallen ist", d.h. mit reichlich ungeeigneten Ratschlägen und Maßnahmen versehen wurde. Leider sind wir in diese pränatale Phase viel zu wenig eingebunden – dabei redet doch alles von Transition! Die "pränatale Transition" als Prävention haben wir noch nicht genug auf dem Schirm, die Kooperation mit Frauenärzten und Geburtshelfern geht gegen Null. Da wird enormes Potenzial verspielt.

Besonders eklatant habe ich die Unterschiede jetzt angesichts der Flüchtlinge in den Erstaufnahmelagern gesehen: katastrophal. Es gibt mancherorts gar keine Hebammenbetreuung, und diese wäre hier ganz besonders wichtig. Es wird kaum ein Kind gestillt, aber die Säuglingsnahrung wird gestellt. Die Hospitalisationsrate ist hoch. Letzte Woche wurde eine Mutter samt Kind 3 Stunden nach Geburt ins Großzelt der Massenunterkunft des Erstaufnahmelagers entlassen. Da wäre eine aufsuchende Präventivbetreuung wesentlich humaner und kostengünstiger. Man sieht ja, ob jemand schwanger ist – das Kind fällt ja nicht vom Himmel.

Dr. Stephan H. Nolte, Marburg


Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2016; 85 (3) Seite 152