Die beste Nahrung für Säuglinge ist die Muttermilch. Dennoch ist das Angebot an Milchnahrungen heute sehr vielfältig. Was bringen die Frühgeborenen-, Prä-, 1er-, 2er- oder Kleinkindermilchen? Dr. Nolte schildert in dieser Praxiskolumne seine Sicht der Dinge.

Immer wieder müssen auch wir Pädiater uns aufmachen, lieb gewonnene Praktiken zu hinterfragen.

Die Pulvermilchnahrungen etwa waren einst segensreich, als das Kühlen problematisch war und sich so die Möglichkeit erschloss, die Nahrung ganz einfach jeweils frisch zuzubereiten. Heute haben wir uns so daran gewöhnt, dass kaum einer weiß, wie eine Halbmilch oder eine Zweidrittelmilch aus Kuhmilch zubereitet werden kann. Und nach den Frühgeborenen-, Prä-, 1er-, 2er-Nahrungen gibt es heute spezielle Kleinkindermilchen, die 3er-Nahrungen, die keinerlei Vorteil gegenüber der in diesem Alter problemlosen Zufuhr von Vollmilch bieten. Die Werbung hält dagegen allerlei Versprechen bereit: So sollen bestimmte Nahrungen Allergien vorbeugen, gut gegen Spucken sein oder für besseren Schlaf sorgen und sogar die Intelligenz fördern. Industrielle Fertigprodukte liegen im Trend. Dabei kann man problemlos für die Beikost (nicht als ausschließliche Nahrung) jenseits der ersten 6 bis 8 Monate auch Vollmilchbreie und Joghurt verwenden, doch wer macht das schon?

Wir alle wissen und propagieren: Die beste Nahrung für Säuglinge ist die Muttermilch. Die UN-Kinderrechtskonvention beinhaltet das Recht auf gute Nahrung. Dennoch werden weltweit weniger als 40 % aller Säuglinge in den ersten 6 Monaten gestillt. Nach neuesten Schätzung der WHO sterben jährlich etwa 0,8 Millionen Kinder unter 5 Jahren, weil sie nicht gestillt wurden [1]. Wenn fast zwei Drittel der Kinder nicht gestillt werden, haben wir es bei den Ersatzprodukten mit einem großen Markt zu tun: 2015 wurden mit Muttermilchersatzprodukten 47 Mrd. US-Dollar umgesetzt – mit steigender Tendenz, denn vor allem in den sogenannten Schwellenländern soll der Markt bis 2020 noch einmal um die Hälfte wachsen [2].

Wer melkt den Milchmarkt? "Den Markt melken" ist ein Ausdruck aus der Börsensprache. Der deutsche Nationalökonom Gustav Ruhland (1860 – 1914) schrieb in seinem Buch "Die führenden Spekulanten lieben es nicht, die Gewinne mit zu viel Gesellschaft zu teilen" [3]. So ist auch die Gesellschaft der Milchersatzprodukte-Hersteller klein geworden: Nur vier große Firmen schöpfen den größten Teil des Marktes ab [4].

Auch wenn vor fast 40 Jahren der International Code of Marketing of Breast-milk Substitutes verabschiedet wurde, um die unangemessene Vermarktung von Babymilchen in die Schranken zu weisen, haben sich die Methoden, Mütter vom Stillen abzuhalten, nicht wesentlich verändert, sie sind nur subtiler geworden. Vor allem sind die Folgeprodukte zur Cashcow geworden, um bei dem Bild von der Kuh zu bleiben. Die Spirale dreht sich dabei immer weiter. Denn eine Milchnahrung benötigt ganz andere infrastrukturelle Voraussetzungen als das Stillen – etwa in Flaschen abgefülltes Wasser – Bedürfnisse, die die Player gerne bedienen.

Bringen wir den von uns betreuten Eltern bei, wie sie mit den Kindern gemeinsam die Nahrung selbst aus natürlichen, in ihrer Herkunft nachvollziehbaren Grundstoffen zubereiten, zusammen essen und so den sozialen Aspekt auch wieder stärker beachten.


Literatur
1. WHO: http://who.int/mediacentre/factsheets/fs342/en/
2. Euromonitor: www.euromonitor.com/market-overview-identifying-new-trends-and-opportunities-in-the-global-infant-formula-market-part-i/report [Zugriff 30.10.2017]
3. Ruhland G (1908) System der politischen Ökonomie Bd III: Krankheitslehre des Sozialen Volkskörpers. Puttkammer und Mühlbrecht, Berlin, S. 255
4. Jörg Schaaber (2017) Den Markt melken: Ersatzprodukte: Profit statt Muttermilch. Pharma-Brief 8 – 9, S. 7


Autor:
© Angelika Zinzow

Dr. Stephan Nolte, Marburg/Lahn

Dr. med. Stephan Heinrich Nolte ist seit über 25 Jahren in Marburg als Kinder- und Jugendarzt niedergelassen, ist Lehrbeauftragter an der Universität Marburg, Fachjournalist und Buchautor. Er ist Vater von 5 Kindern und 9 Enkelkindern.


Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2019; 90 (1) Seite 6