Der Song "Numb" von Linkin Park greift die immer wiederkehrende Frage der Autonomiebestrebung von Jugendlichen auf. Kinderarzt Markus Landzettel schreibt über die Bedeutung und Entwicklung von Musik in der Jugendkulter.

"Ich bin es so leid, so zu sein, wie ihr mich haben wollt, fühle mich treulos, verloren unter der Oberfläche. Weiß nicht, was ihr von mir erwartet, unter dem Druck, in euren Schuhen zu laufen. Alles was ich tue, ist für euch nur ein weiterer Fehler.

Alles was ich will, ist mehr zu sein wie ich und weniger wie ihr. Seht ihr nicht, wie ihr mich erstickt? Haltet zu fest, aus Angst, Kontrolle zu verlieren. Denn alles, was ich nach eurer Ansicht sein sollte, ist vor euren Augen in Stücke gegangen. Alles, was ich tue, ist für euch nur ein weiterer Fehler, und jede Sekunde, die ich verschwende, ist mehr, als ich ertragen kann. Und ich weiß, ich kann am Ende gleichfalls scheitern. Aber ich weiß auch, ihr wart mal so wie ich, und jemand anderes enttäuscht von euch." ("Numb" aus dem Album "Meteora" von 2003, Linkin Park).

Dieser Song greift die immer wiederkehrende Frage der Autonomiebestrebung von Jugendlichen gegenüber ihren Eltern auf. Er beschäftigt sich mit Selbstreflektion und Weltschmerz, der Ablehnung von Leuten, die einem reinreden wollen sowie mit der emotionalen Auseinandersetzung der sich entwickelnden eigenen Rolle – genau das Thema zwischen Pubertät und Adoleszenz.

Seit dem Erscheinen 2003 wurde das dazu produzierte Musikvideo von über 600 Millionen Menschen auf Youtube angeklickt. Der Großteil der Zuschauer war unter 20 Jahre alt. Nicht alle haben sicherlich den englischen Text verstanden, aber die Kernbotschaft mitgenommen: Mach dein eigenes Ding!

So konnte der Song helfen bei Stress mit den Eltern, den Lehrern, den mobbenden Mitschülern, dem gefühlten Desinteresse der Umwelt am Heranwachsen der eigenen Persönlichkeit, der gefühlten Einsamkeit und den wegen all dieser Umstände verspürten Schmerzen. Dazu kam der Sound, wild, ekstatisch und laut. All das wirkte authentisch, man ahnte, dass der Sänger genau dieses Erleben durchschritten hatte.

Musiker haben schon immer einen großen Stellenwert in der Jugendkultur gehabt. Sind weiterhin häufig auch Vorbilder. Daher ist es auch verständlich, dass der Tod des Sängers im Juli 2017 für große Bestürzung und Trauer gesorgt hat.

Die Bestürzung und Trauer wird aber überwunden werden. Die Jugendlichen richten sich wieder nach Neuem aus und finden neue Vorbilder, die ihre Bedürfnisse am besten verstehen und artikulieren können. Hierbei ist die Bedeutung der Freunde wichtig. Bei Fragen zu Beziehung, Schule, Beruf, Mode, Styling etc. werden zunächst die Freunde herangezogen, nicht die Eltern und auch wir nicht als Kinder- und Jugendärzte. Die Peergroup gibt meist Halt und Orientierung. Sie kann bei Problemen stabilisieren und einen protektiven Faktor gegenüber Depression, Selbstzweifel und Selbstverletzung darstellen. So kann der Impuls für die Ausrichtung auf neue Vorbilder aus dieser Gruppe kommen.

Nun bleibt noch der mühsame Kampf gegen die Kommerzialisierung, dem die Jugendlichen heute mehr unterliegen als dies in unserer Generation noch der Fall war. Das Mainstreaming der Musikkonzerne und die neuen Casting-Shows fördern nicht mehr die künstlerische Kreativität, den individuellen, eigenständigen Künstler und sein Werk, sondern die Fähigkeit zur Imitation und Affirmation. Wer der Jury brav gehorcht und erfolgreiche Hitproduktionen am besten zu imitieren versteht, der gewinnt und wird am Ende der Superstar.

Dennoch liefern noch genügend frei gestaltete Musikkulturen ausreichende Ressourcen für junge Menschen, auf die sie zurückgreifen können, um Identitäten auszubilden und Selbstbilder zu konstruieren, um sich jugendkulturellen Formationen zuzuordnen oder sich von diesen abzugrenzen.

Ich bin bereits jetzt auf die sich neu bildende "präsentativen Symbolik" gespannt und hoffe, dass diese nicht allzu schnell vom Kommerz und den Scheintoten über 30 Jahre assimiliert wird.



Autor:
Dr. Markus Landzettel


Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2017; 88 (6) Seite 360