Interview mit dem Jugendforscher Prof. Klaus Hurrelmann zu den Folgen der Corona-Krise für junge Menschen.

Prof. Dr. Dr. h.c. Klaus Hurrelmann
ist Professor of Public Health and Education an der Hertie School (University of governance in Berlin). Als emeritierter Professor der Universität Bielefeld ist er insbesondere als Jugendforscher bundesweit bekannt geworden und gilt hier als einer der renommiertesten Experten für die Bedarfe, Sorgen und Nöte junger Menschen im Land. Als Mit-Initiator z. B. der Shell-Studie hat er sich stets für die Belange von – insbesondere benachteiligten und in ihrer Entwicklung besonders gefährdeten – Adoleszenten und jungen Menschen eingesetzt, die seiner Ansicht nach immer wieder zu kurz kommen. Ob das auch für die Zeit der Corona-Pandemie zutrifft, dazu hat ihn Raimund Schmid, Redaktion Kinderärztliche Praxis, befragt.

Raimund Schmid: Herr Prof. Hurrelmann, wurden Ihrer Meinung nach im Kontext der Corona-Krise angesichts der vielen laufenden gesamtgesellschaftlichen und politischen Abwägungsprozesse die Bedürfnisse von Jugendlichen bisher ausreichend berücksichtigt?

Prof. Dr. Dr. h.c. Klaus Hurrelmann: Die Antwort lautet eindeutig Nein. Alle Entwicklungsherausforderungen, die im Lebensabschnitt um die Pubertät herum relevant sind, sind mit Einschränkungen durch das Corona-Virus verbunden. Und zwar in sozialpsychologischer, soziologischer und pädagogischer Hinsicht. Da müssen Bildungs- und Qualifikationsprozesse abgeschlossen werden, da ist die Ablösung von den Eltern in vollem Gang und da findet häufig gerade der Aufbau intensiver und auch intimer Beziehungen statt. Zudem spielen in dieser Zeit der Adoleszenz Konsum, Freizeit, und Medien eine immer bedeutendere Rolle, die auch Einfluss auf die Heranreifung eines politischen Bürgers mit eigener Wertorientierung hat. Die Jugendlichen sind also tatsächlich eine Bevölkerungsgruppe, die sehr unter den vielfältigen Einschränkungen während der Corona-Pandemie leidet.

Aber können nicht gerade junge Menschen dieses Manko ganz gut virtuell auffangen?

Prof. Hurrelmann: Ja, zum Teil schon. Zum Glück sind es tatsächlich die Jugendlichen, die digital virtuos unterwegs sind. Die waren schon immer in der Lage, über ihre Netzwerke viele Kontakte aufzubauen. Hier zeigten Studien, dass sie gar nicht verstehen, dass Ältere immer noch zwischen virtuellen Kontakten auf dem Bildschirm und realen/physischen Zusammentreffen unterscheiden. Aber jetzt merken junge Menschen natürlich auch, dass reale Begegnungen etwas ganz anderes sind: körperliches Kräftemessen, soziale Spielregeln einhalten, im Raum bewegen, Umgangsformen erproben, aufeinander zugehen, Empathie zeigen und dann natürlich die ganzen persönlichen, individuellen und auch intimen oder sexuellen Kontakte. Das alles fiel jetzt für lange Zeit weitgehend aus, ist aber natürlich einschneidend für die weitere Persönlichkeitsentwicklung. Die meisten werden diese Wochen mit all ihren massiven Einschränkungen aber dennoch durchaus wegstecken können. Aber eben nicht alle.

Sind aus Ihrer Sicht bei den Jugendlichen, die die Corona-Krise nicht so gut verarbeiten werden, Auswirkungen auf deren Gesundheit – physisch wie psychisch – zu erwarten?

Prof. Hurrelmann: Ja, das müssen wir schon befürchten. Es betrifft zunächst die Gruppen der Jugendlichen, die auch vor Corona aufgefallen sind, weil sie Schwierigkeiten, z. B. mit ihren Eltern, hatten oder Ablösungsprozesse nicht funktioniert haben. Wir müssen zudem davon ausgehen, dass sich bei all denjenigen jungen Leuten, die sowieso schon körperliche oder psychosomatische Probleme hatten oder durch chronische oder psychische Vorerkrankungen belastet waren, die Probleme in der Pandemie weiter zugespitzt haben.

Wie genau sehen diese aus?

Prof. Hurrelmann: Vor allem dürfte es zu Problemen im psychosozialen Bereich kommen bis hin zu Kontaktstörungen und Kontaktängsten, die sich bei jungen Menschen vermehrt entwickeln könnten. Aber natürlich dürfen wir auch nicht übersehen, dass Ausgangsbeschränkungen auch zu Bewegungsarmut und gegebenenfalls auch einer schlechteren Ernährung führen. Das könnte zu neuen Krankheitsbildern führen oder bereits vorhandene Probleme verschärfen. Wer zuvor schon übergewichtig war, ist jetzt erst recht in großer Gefahr, noch dicker oder noch adipöser zu werden. Wer einen schlechten Tagesrhythmus hatte, wird jetzt noch einen schlechteren haben. Also diese Krise verschärft alle Bruchstellen, die in der gesunden Persönlichkeitsentwicklung bei Jugendlichen schon existierten und deren Entwicklung gefährden.

Wie viele Jugendliche werden davon nachhaltig betroffen sein?

Prof. Hurrelmann: Wir müssen von 3 – 5 % der jungen Leuten ausgehen, die hier gesundheitlich und psychisch längere Zeit auf der Kippe stehen, weil sie nun Angst vor der Zukunft haben. Denn eine solche Extremsituation wie eine Pandemie verschärft bereits bestehende Sorgen enorm. Also Zukunftsängste werden zunehmen. Das stellt sich für ängstliche Jugendliche die Frage, ob sie es überhaupt schaffen, in Ausbildung zu kommen und einen Beruf erlernen zu können. Viele werden sich fragen: Kann ich in dieser Welt künftig überhaupt noch gut leben? Diese Befürchtungen könnten bei einigen jungen Menschen, die all diese Strömungen schlecht verarbeiten können, durchaus zu Entwicklungsstörungen führen, denen sich gerade auch die Spezialisten aus der Sozialpädiatrie und der Psychosomatik verstärkt stellen müssen.

Schauen wir noch einmal auf die Gesamtgruppe der Jugendlichen. Würden Sie vermuten, dass diese Pandemie, die so viele junge Menschen zum ersten Mal in dieser Weise überhaupt erleben, Einfluss auf das Gesundheitsverhalten junger Menschen haben könnte?

Prof. Hurrelmann: Ich glaube, davon dürfen wir ausgehen. Denn künftig werden auch 12-, 13- und 14-Jährige stärker darauf achten, wie sie Kontakte aufnehmen, wo sie Kontakte aufnehmen, wie sie sich verhalten, wie sie sich kleiden, und wie sie sich in sozialen Räumen bewegen. Das gibt sicher auch einen Schub für das Gesundheitsbewusstsein und man könnte sich geradezu wünschen, dass jetzt in den Schulen sowas wie eine gesundheitliche Bildung auf den Schulplan kommt und die Gelegenheit genutzt wird, um dieses schon so lange brachliegende Gebiet endlich zu aktivieren.

Wird sich das auch positiv auf Präventions- und Vorsorgeangebote, wie zum Beispiel die J1 und J2 oder Impfungen, auswirken, die in diesem Alter stattfinden? Könnte bei Jugendlichen hier ein stärkeres Bewusstsein für solche Maßnahmen geweckt worden sein?

Prof. Hurrelmann: Ja, es ist denkbar, dass sich da manche bisher verschlossene Tür jetzt öffnen könnte. Das Bewusstsein wird steigen für Fragen, wie man sich gut ernährt, wie man sich gut bewegt oder wie ein guter Tagesrhythmus aussieht. Das alles kann sich auch auf die Inanspruchnahme von Gesundheitsuntersuchungen im Jugendalter oder Impfungen durchaus positiv auswirken. An den an COVID-19-Erkrankten sehen ja auch junge Menschen jetzt, wie wertvoll eine Impfung sein kann.

Die Corona-Krise wird also tatsächlich zu einem gesteigerten Gesundheitsverhalten führen?

Prof. Hurrelmann:Davon gehe ich aus. Hierfür wird es aber aus Sicht der aktiven Jugendlichen Verhaltensänderungen und auch entsprechende Regeln und Gesetze auf kollektiver Ebene geben müssen. Beim Klima hatten sie im Grunde analog dazu immer genau in diese Richtung argumentiert.

Stichwort Klimabewusstsein: Insgesamt haben wir es ja heute mit einer Jugend zu tun, die in verschiedenen Richtungen aktiv ist. Beim Thema Klima ist das die Bewegung "Fridays for future". Wie sieht deren Perspektive aus Ihrer Sicht aus? Werden die Jugendlichen ausgebremst, weil sie zum ersten Mal im Leben eine Situation erleben, in der ein Bedrohungspotenzial für sie selbst und die Gesellschaft da ist, oder bleibt die Bewegung davon unbeeinflusst?

Prof. Hurrelmann:Die Corona-Krise wird dieser Bewegung wird nicht schaden. Ganz im Gegenteil. Die große Mehrheit der Aktivisten von "Fridays for future" sieht sich jetzt sogar eher darin bestärkt, dass ihre Lebensgrundlagen gefährdet sind. Deren Devise lautete schon immer: Wir müssen bewusster leben, wir müssen uns einschränken, wir dürfen nicht im Konsum über die Stränge schlagen wie es Ihr als ältere Generation getan habt. Zudem müssen wir unsere Mobilitätsverhältnisse überdenken. Junge Menschen, die sich auf diese Weise für ein auch sozialeres Gemeinwesen einsetzen, die werden sich also in der jetzigen Krise in ihrer Meinung eher bestätigt fühlen und keinesfalls zurückrudern.

Kommen wir auf die genannten 3 – 5 % zurück, die alles nicht so gut wegstecken werden. Reichen die bisherigen Hilfen und Unterstützungssysteme Ihrer Meinung nach im Hinblick auf die psychosozialen Versorgungsangebote, institutionellen Unterstützungsangebote, Krisenhotlines und was es alles sonst noch gibt aus, um diese Gruppe von jungen Menschen entsprechend adäquat auffangen zu können?

Prof. Hurrelmann:Die Frage ist sehr ernst zu nehmen. Denn wenn es stimmt, dass diese jungen Leute etwa 8 Wochen lang ohne eine Unterstützung waren, weil sie sich in ihren häuslichen Räumen eingebunkert haben, weil sie dabei möglicherweise auch depressiv geworden sind oder sich noch tiefer als zuvor in den Medienkonsum vergraben haben, müssen wir davon ausgehen, dass deren problematische Symptome eher noch zugenommen haben. In dieser Zeit ist eine ganze Zeit lang jede Hilfe ausgefallen. Und entsprechend ist der Unterstützungsbedarf zum Beispiel auch von sozialpädiatrischer Seite nun entsprechend groß.

Kann das aber nun so schnell überhaupt aufgefangen werden?

Prof. Hurrelmann:Das würde ich bezweifeln. Beispiel Schule: Dort muss erstmal geschaut werden, wie ein konventioneller Unterricht überhaupt wieder gestaltet werden kann. Das kostet im Moment die Aufmerksamkeit der gesamten Schulorganisation und der Lehrerkollegien. Da wird leider ganz wenig Zeit bleiben für diese mehr psychisch oder sozialpädiatrisch besonders belasteten Schüler. Daher müssen wir befürchten, dass diese noch eine ganze Zeit lang zurückgestellt werden, sodass eventuelle Probleme junger Leute sich eher weiter verschärfen und verfestigen dürften und letztlich bei den Pädiatern landen.

Drohen damit Kinder aus armen und bildungsfernen Familien noch stärker abgehängt zu werden als schon zuvor?

Prof. Hurrelmann: Ja, das ist zu befürchten. Aus den Jugendstudien, z. B. den Shell-Jugendstudien, können wir über all die Jahre immer wieder folgern, dass wir es bei 20 % der jungen Leute mit sehr schwierigen Ausgangssituationen im Elternhaus zu tun haben. Das sind relativ arme Elternhäuser, die von Transferleistungen leben. Diese Eltern sind auch in der Regel nicht sehr gut gebildet. Diese Eltern haben gesundheitliche Probleme, beherrschen keine guten Umgangsformen und üben mitunter auch Gewalt aus. Für Kinder und Jugendliche aus solchen Familien ist es ein Segen, dass es öffentliche Bildungseinrichtungen gibt. Die sind jetzt eine Zeit lang ausgefallen und fallen zum Teil noch weiter aus. In dieser Zeit sind diese Elternhäuser radikal überfordert gewesen. Und wir müssen vermuten, dass sie es nicht geschafft haben, ihren Kindern – und erst recht nicht den Jugendlichen – auch nur ansatzweise ein adäquates Ersatzangebot zu unterbreiten. Da kommen also bildungs- und belastungsmäßig eine ganze Menge neuer Herausforderungen auf uns zu.

Dann wird doch aber die soziale Ungleichheit noch weiter zunehmen.

Prof. Hurrelmann: Ja, der Prozess ist schon im Gange. Wir müssen befürchten, dass Ungleichheiten sich tatsächlich während dieser Krise ganz stark weiterentwickelt haben. Und wir wissen, dass Bildungsungleichheiten immer auch gesundheitliche Ungleichheiten mit sich schleppen und entsprechend müssen wir Sorge haben, dass diese Gruppe von Kindern und Jugendlichen darunter nicht nur bildungsmäßig leidet, sondern dafür nun auch noch die gesundheitliche Quittung erhält.

Wo liegen in der Krise denn aber auch Chancen für die Jugendlichen? Wo sollten sie sich künftig gegebenenfalls besser entfalten und auch einbringen können?

Prof. Hurrelmann: Zum Beispiel in der Schule. Schule muss künftig viel mehr auch soziale Kontakte mit trainieren und deutlich machen, dass sie ein sozialer Aufenthaltsraum und Arbeitsplatz ist. Also hier muss die Schule zunächst einmal ihre Entwicklungsaufgabe erweitern. Vor allem aber müssen die Schüler selbst stärker an der Gestaltung ihres Alltags beteiligen werden. Etwa durch digitale Angebote oder auch dadurch, eigene Apps zu entwickeln, eigene Kanäle einzurichten oder mehr YouTube-Videos zu drehen. Da sind die meisten Jugendlichen hoch kompetent und den Lehrkräften haushoch überlegen. Diese Kompetenzen werden jetzt eine andere Bedeutung erlangen als vor der Corona-Krise.

Warum?

Prof. Hurrelmann: Weil in Deutschland bisher die Digitalisierung so lange verschleppt und auch von vielen Lehrkräften als gefährliche und bildungsabträgliche technische Tendenz geradezu verdrängt wurde. Wie wichtig aber gerade auch digitales Lernen sein kann, haben wir jetzt alle erlebt. Wir sehen aber auch, dass die Schulen in Deutschland im europäischen Vergleich hier weit zurück sind. Wenn wir das aufholen wollen, dann geht das nur mit Unterstützung der Jugendlichen selbst. Dieses Bewusstsein wird sich jetzt mehr und mehr durchsetzen.

Könnten Sie da ein konkretes Beispiel nennen?

Prof. Hurrelmann: Ja, man könnte in der Schule eine Schülerfirma gründen oder eine andere Konstruktion wählen. Hierbei könnte sich die Schule mit Schülern und mit Unterstützung der Lehrkräfte dafür einsetzen, dass für junge Menschen, denen es gesundheitlich nicht gut geht, ein interessantes und altersgerechtes Online-Programm entwickelt wird, das sie dort abholt, wo sie gerade mit ihren gesundheitlichen Einschränkungen oder psychischen Problemen stehen. Also ein Programm von fitten und engagierten Jugendliche für belastete und gefährdete junge Menschen. Das würde sicher gerade in den jeweiligen Peergroups eine sehr hohe Akzeptanz finden.


Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2020; 91 (4) Seite 294-296