Neue Chancen ergeben sich durch aktuelle Empfehlungen zur Stillförderung, wie der folgende Beitrag zeigt. Grundlage sind die Ergebnisse des internationalen Forschungsvorhabens Becoming Breastfeeding Friendly (BBF).

Am 5. Juni 2019 wurden die Ergebnisse aus dem internationalen Forschungsvorhaben Becoming Breastfeeding Friendly (BBF) in Berlin vorgestellt [1, 2]. Die Ergebnisse sind äußerst aufschlussreich und zeigen, dass bezüglich des Stillens die Potenziale in Deutschland noch längst nicht ausgeschöpft sind.

In Deutschland wurde das Forschungsvorhaben auf Initiative des Bundesernährungsministeriums (BMEL) vom Netzwerk Gesund ins Leben und der Nationalen Stillkommission (NSK) mit der Universität Yale durchgeführt, an der es entwickelt wurde. Eine Expertenkommission erfasste in einer systematischen Bestandsaufnahme zum Stand der Stillförderung stillförderliche und -hinderliche Faktoren für Deutschland. Auf dieser Basis wurden 8 Empfehlungen als Grundlage für effiziente und nachhaltige Maßnahmen zur Stillförderung ausgesprochen (Tab. 1).

Fachlich ist es heute zwar eine selbstverständliche Empfehlung, Säuglinge mindestens bis zu dem Beginn des 5. Monats ausschließlich zu stillen [3]. Die Ergebnisse zum Stand der Stillförderung in Deutschland sind jedoch insgesamt unbefriedigend [4]. Dies bestätigten aktuell die Ergebnisse der Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KiGGS) für die Jahrgänge 2012 bis 2016: Mit 2 Monaten sind lediglich noch 57,3 % der Kinder ausschließlich gestillt, im Alter von 4 Monaten nur noch 40 % [5].

BBF-Ergebnis für Deutschland: moderat stillfreundlich

Hier setzt das aktuelle Forschungsvorhaben an [6], in dem in den beteiligten Staaten jeweils mit dem BBF-Modell 8 für die Stillförderung relevante Handlungsfelder mit 54 Einzelkriterien detailliert analysiert werden. Sie sollen wie Zahnräder ineinander greifen und umfassen unter anderem den politischen Willen, Gesetzgebung, Finanzierung, Bildung und Stillberatung sowie die zentralen Aufgaben der Zielsetzung und Koordination. Der in Deutschland erreichte Gesamtscore von 1,7 auf einer Skala von 0 bis 3 entspricht nach den Projekt-Kriterien einer "moderaten" Stillfreundlichkeit [1].

Sehr konkrete Handlungsbedarfe bestehen insbesondere in den Bereichen der öffentlichkeitswirksamen Werbung für das Stillen und der Forschung und Evaluation (Score ≤ 1). Gesellschaftliche Wertschätzung kann individuelle Entscheidungen für oder gegen das Stillen beeinflussen. Forschung und Evaluation sind die Grundlage für effektive zukunftsfähige Maßnahmen und ihre Weiterentwicklung. Gesetzgebung und Finanzierung (Score > 2) wurden am besten bewertet. Verbesserungspotenzial besteht teilweise in der Information relevanter Zielgruppen, der Transparenz bzw. der Koordination. Gerade sie sind jedoch essenzielle Bausteine für eine nachhaltige Wirksamkeit von Maßnahmen.

Das zentrale Ergebnis des BBF-Projekts sind die 8 abgeleiteten Empfehlungen zur Stillförderung in Deutschland (Tab. 1), in denen Stillförderung als gesamtgesellschaftliche und sektorenübergreifende Aufgabe gespiegelt wird [2]. Hier besteht oftmals Anschlussfähigkeit an bestehende Maßnahmen und Konzepte.

Nationale strategische Ansätze zur Stillförderung

Von grundlegender Bedeutung ist die Rahmenempfehlung zur Entwicklung einer Nationalen Strategie zur Stillförderung, die nun dem BBF-Projekt folgen kann und bis 2021 erstellt sein soll. Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) plant, am Max Rubner-Institut (MRI) eine dauerhafte zentrale Koordinierungsstelle für ihre Entwicklung und Umsetzung einzurichten. Ein systematisches strategisch konzipiertes Vorgehen könnte entscheidend zur Umsetzung eines Teilziels des nationalen Gesundheitsziels "Gesundheit rund um die Geburt" beitragen, den Anteil stillender Mütter sowie die Stilldauer zu erhöhen [7].

Dies gilt auch für die Empfehlung, eine Kommunikationsstrategie für die Stillförderung zu entwickeln und umzusetzen. Sie bündelt mehrere Ansatzpunkte, um die gesellschaftliche Akzeptanz des Stillens zu steigern. Eine Medienanalyse zeigte nicht nur eine geringe Medienpräsenz von Stillthemen, sondern auch, dass das Stillen eher kontrovers und teils negativ dargestellt wird [2]. Eine große Herausforderung bleibt das explizite Ziel, zielgruppenspezifisch das Wissen über die Bedeutung des Stillens vor allem bei Frauen und ihrem sozialen Umfeld zu steigern, die seltener und kürzer stillen als Vergleichsgruppen. Jetzt werden sowohl Alternativen bzw. neue Medien und Kanäle von Informationen zum Stillen empfohlen als auch deren Entwicklung in einem partizipativen, stigmasensiblen Ansatz. Synergien zwischen den (Fach-)Informationen vor Ort und den geplanten Medien und Informationswegen wären wünschenswert.

Standards und Qualifizierung

Standards evidenzbasierter Stillförderung und -beratung zu implementieren, scheint eine selbstverständliche Empfehlung. Sie könnte über die empfohlene AWMF-Leitlinie "Stillförderung und -beratung" und die Integration des Themas in andere relevante Leitlinien/-vorhaben erfolgen – ebenso wie die Berücksichtigung in Mutterschafts- und Kinderrichtlinien des G-BA. Für den Bereich der Geburtskliniken und -Häuser soll eine aktuelle Empfehlungs- und Handlungsgrundlage durch eine Erhebung zu stillförderlichen Maßnahmen geschaffen werden.

Umfassende Empfehlungen zum Thema Stillen in Aus-, Fort- und Weiterbildung von Ärztinnen und einschlägigen Gesundheitsfachberufen zielen
  • auf die wichtige Vereinheitlichung der Lehrinhalte zum Thema Stillen in der Ausbildung, und
  • eine aufgaben- und kompetenzbasierte Fort- und Weiterbildung zur Stillförderung und -beratung.

Fort- und Weiterbildungen sind besonders wichtig, da die überwiegende Mehrzahl der Berufstätigen für (werdende) Mütter und ihre Säuglinge die Ausbildung abgeschlossen hat. Bemerkenswert ist, dass hier auch die assoziierten Berufsgruppen und Ehrenamtliche mit Kontakt zu werdenden und jungen Familien als Multiplikatoren in den Blick genommen werden.

Stillförderung vor Ort

Nur durch die empfohlene Vernetzung aller Akteure vor Ort und in den Lebenswelten der (werdenden) Mütter können sowohl ein frühzeitiger niederschwelliger Zugang zu wohnortnaher professioneller Stillberatung- und Unterstützung sowie zu Selbsthilfeangeboten erreicht als auch die Betreuungskontinuität gesichert werden. Handlungsbedarf besteht auch bei der Transparenz der Informationen über bestehende Angebote für (werdende) Mütter und ihr soziales Umfeld.

Kommunen können sich mit Hinweisen aus den BBF-Empfehlungen "stillfreundlich" ausrichten. Das Thema kann in kommunale und interdisziplinäre Vernetzungsstrukturen des Gesundheitswesens und der Familienunterstützung eingebracht werden. Ein Ansatzpunkt könnte die aktive Förderung der Vereinbarkeit von Stillen und Beruf in kommunalen Behörden sein. Ein praktischer Baustein zur Transparenz der Angebote wären niederschwellig verfügbare Informationen zu öffentlichen Still- und Wickelmöglichkeiten und ihrer Ausstattung.

Die BBF-Empfehlung, die Vereinbarkeit von Stillen und Beruf, Studium und Ausbildung zu fördern und hierzu adressatengerecht zu informieren, ist auch für das Gesundheitswesen in seiner Vorbildfunktion besonders relevant. Aber es wurde auch der Bedarf gesehen, weitere strukturelle Lösungen zur Umsetzung des Mutterschutzgesetzes zu erarbeiten.

Systematisches Stillmonitoring

Die Empfehlung, ein systematisches Stillmonitoring für Deutschland zu etablieren, knüpft an vorausgehende Vorschläge der NSK an [8] und könnte Grundlage der Evaluation vorgesehener Interventionen zur Stillförderung werden. Die Einrichtung einer am MRI vorgesehenen Koordinationseinheit für das Stillmonitoring auf nationaler Ebene wäre wegweisend.

Konkret vorgeschlagene Bausteine sind regelmäßige prospektive Studien zur standardisierten Erfassung relevanter Stillindikatoren, die Abbildung des Themas in repräsentativen Studien und an Punkten, in denen (fast) Vollerfassungen möglich scheinen, wie in Schuleingangsuntersuchungen. An diese anknüpfend wurde die Perspektive formuliert, einen (fakultativen) Indikator in der Gesundheitsberichterstattung (GBE) der Länder zum Thema Stillen zu initiieren. Dies wäre ein Meilenstein für eine bedarfsgerechte Stillförderung vor Ort.

Fazit

Fast 25 Jahre nach Gründung der Nationalen Stillkommission wurde in Deutschland mit dem Projekt Becoming Breastfeeding Friendly erstmals eine fundierte Chance eröffnet, eine übergreifende Analyse zur Situation der Stillförderung vorzunehmen. Differenzierte Empfehlungen zeigen zeitnah zu schließende Lücken ebenso auf wie Maßnahmen, mit denen Deutschland stillfreundlicher werden kann. Die erfolgreiche Umsetzung einer nationalen Strategie zur Stillförderung wird auf die Unterstützung aller angewiesen sein, die mit jungen Familien befasst sind. Der Erfolg wird sich jedoch letztendlich daran messen lassen müssen, ob eine positive Entwicklung der Stillraten erfolgt und die Empfehlungen in dem ambitionierten Zeitplan realisiert werden können.


Interessenkonflikt
Die Autorin ist Mitglied der Nationalen Stillkommission und der Expertenkommission des Projekts Becoming Breastfeeding Friendly.

Literatur
1. Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE) (Hrsg.), Faktenblatt. So wird Deutschland stillfreundlich! Ergebnisse und Empfehlungen aus dem internationalen Forschungsvorhaben Becoming Breastfeeding Friendly. https://www.gesund-ins-leben.de/_data/files/bbf_faktenblatt_ergebnisse.pdf (Online 5. 7. 2019)
2. Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE) (Hrsg.) Empfehlungen zur Stillförderung in Deutschland. Erarbeitet im Rahmen des Forschungsvorhabens Becoming Breastfeeding Friendly. https://www.gesund-ins-leben.de/_data/files/bbf_empfehlungen.pdf (Online 5. 7. 2019)
3. Koletzko B, Bauer CP, Cierpka M, Cremer M, Flothkötter M et al. (2016) Ernährung und Bewegung von Säuglingen und stillenden Frauen. Aktualisierte Handlungsempfehlungen von "Gesund ins Leben – Netzwerk Junge Familie", eine Initiative von IN FORM. Monatsschr Kinderheilkd 164: 765 – 789
4. Weissenborn A, Abou-Dakn M, Bergmann R, Both D, Gresens R et al. (2016) Stillhäufigkeit und Stilldauer in Deutschland – eine systematische Übersicht. Gesundheitswesen 78: 695 – 707
5. Brettschneider AK, von der Lippe E, Lange C (2018) Stillverhalten in Deutschland – Neues aus KiGGS Welle 2. Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz 61 (8): 920 – 925
6. Pérez-Escamilla R, Hromi-Fiedler A, Bauermann Gubert M, Doucet K, Meyers S et al. (2018) Becoming Breastfeeding Friendly Index: Development and application for scaling-up breastfeeding programmes globally. Matern Child Nutr 14:e12596. https://doi.org/10.1111/mcn.12596
7. Bundesministerium für Gesundheit (Hrsg.) (2017) Berlin https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/5_Publikationen/Gesundheit/Broschueren/Nationales_Gesundheitsziel_Gesundheit_rund_um_die_Geburt.pdf (Zugang online 5. 7.2019)
8. Sievers E (2018) Stillmonitoring in Deutschland – aktueller Handlungsbedarf und Perspektiven. Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung 61 (8): 911 – 919


Korrespondenzadresse
PD Dr. Erika Sievers, MPH

Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2019; 90 (5) Seite 364-366