Zwei BSG-Urteile aus den Jahren 2011 bzw. 2016 zu Planungen, ein Sozialpädiatrisches Zentrum zu beantragen, sind für die Pädiatrie und Sozialpädiatrie sowie Eltern-Selbsthilfegruppen von großer Bedeutung. Warum, erklärt der folgende Beitrag.

Vorbemerkungen zu BSG-Urteilen vom 29. 06. 2011 und 17. 02. 2016

Das Bundessozialgericht hat mit seinen Urteilen vom 29. 06. 2011 (Az. B6 KA34/10) und vom 17. 02. 2016 (Az. B6 KA 6/15 R) die bisherige Genehmigungspraxis zur Einrichtung von Sozialpädiatrischen Zentren (SPZs) und die dazugehörigen Antragsverfahren in Deutschland scheinbar erheblich erschwert. Bislang konnte man davon ausgehen, dass an Schwerpunktkliniken der Kinder- und Jugendmedizin bei entsprechendem Angebotsprofil für Diagnostik und Therapie ein Sozialpädiatrisches Zentrum von den jeweiligen lokalen Zulassungsausschüssen der Kassenärztlichen Vereinigungen genehmigt würde. Die exakte Analyse der beiden Urteile lässt weiterhin Anträge zur Errichtung von weiteren SPZs in Deutschland zu. Es müssen dazu allerdings Bedingungen eingehalten werden, die sich aus den Gerichtsurteilen ergeben.

Genehmigungsverfahren für die SPZ-Gründung und aktuelle Rechtsprechung

Ohne Zweifel hat die Gesamtpädiatrie mit den gesetzlichen Vorgaben in den §119, 43 und 120 SGB V einen Zugewinn an Kompetenzmöglichkeiten erhalten, der Kindern und Jugendlichen mit "besonderen Bedürfnissen" und ihren Familien zugutekommt [1, 2]. Diese Erkenntnis wollen Kinderkliniken in Deutschland mehr und mehr nutzen.

Der "Themenkatalog" in der Sozialpädiatrie ist über die Jahrzehnte größer und umfassender geworden [3]. Dieser Entwicklung müssen sich die Zulassungsausschüsse der Kassenärztlichen Vereinigungen sowie die gesetzlichen Krankenkassen stellen. Patienten mit "speziellen Bedürfnissen", also Patienten, die wir bislang leider noch als "behinderte Menschen" bezeichnen, benötigen in ihrer Lebenssituation interdisziplinäre Hilfen durch Fachleute [7]. Das sogenannte "Altöttinger Papier" zu Arbeitsinhalten in SPZs stellt weiterhin die Basis für jeden Neuantrag zur Genehmigung eines SPZs dar [4, 5].

Neuantrag "Sozialpädiatrisches Zentrum (SPZ)" – aktuelle Rechtsprechung des BSG und Chancen

"Sozialpädiatrie versteht sich heute als Arbeitsfeld integriert in der Kinderheilkunde und Jugendmedizin" [6]; dieser Grundsatz war 1998 ebenso richtig wie auch aktuell im Jahr 2017. Das Arbeitskonzept in den SPZs ist systemisch ausgerichtet [7]. Dies wird durch eine enge Zusammenarbeit der Fachgruppen erreicht, wobei die Kommunikation der Fachgruppen zum Arbeitsprinzip in SPZs zählt. Bei der Antragsstellung müssen aufgrund der aktuellen Rechtsprechung folgende Entscheidungen des Bundessozialgerichts beachtet werden:

Bezugsgröße "Bemessungszahl Einwohner"

Der Nachweis eines "Bedarfs" an Sozialpädiatrischen Zentren muss zukünftig die Genehmigung von solchen Zentren leiten. Er richtet sich nach wie vor nach der Bevölkerungszahl und damit an dem Einzugsgebiet aus. Dass diese Bemessungszahl unsinnig ist, liegt auf der Hand. Es kann einzig und allein darum gehen, wie viele Kinder bis 18 Jahre in einer Region leben und wie sie von den vertragsärztlich tätigen Kinder- und Jugendmedizinern, den Kliniken für Kinder- und Jugendmedizin und deren ermächtigten Spezialsprechstunden – bzw. SPZs – und mit welchem Angebotsprofil betreut werden können.

BSG-Urteil vom 29. 06. 2011: SPZ – wohnortnah und Nachweis der Qualität der Arbeit in SPZs

In diesem Urteil wird unter 6. betont, dass nach dem Wortlaut des §119 SGB V die gesetzliche Regelung für die Genehmigung von Sozialpädiatrischen Zentren darauf ausgerichtet sei, dass jegliche Leistungen der Diagnostik – soweit sie nicht von Frühförderstellen und anderen Ärzten angeboten werden können – wohnortnah anzubieten seien. Es geht also nicht um die Frage, was für Kinder und Jugendliche mit ihren Behinderungen, chronischen Krankheiten etc. durch weite Wege zu einem SPZ zumutbar sei, als vielmehr um die Frage, was wünschenswert und unverzichtbar für die Betroffenen ist.

Auch sei es erforderlich, Kinderärzte und Frühförderstellen zu befragen, ob die Nachfrage nach SPZs von vorhandenen SPZs erfüllt werde, so das Gerichtsurteil.

Zu solcher Einstellung kommt das BSG auch im Abschnitt 30a), wenn es betont, dass zur "Bedarfsermittlung" die Befragung der bisherigen für solche Leistungen in Betracht kommenden Leistungserbringer erforderlich sei und zusätzlich, dass diese Angaben ggf. objektiviert und verifiziert werden müssten, z. B. anhand von überprüfbaren statistischen Daten der zu behandelnden Patienten.

BSG-Urteil vom 17. 02. 2016

Zu diesem Urteil sollen vornehmlich Stichpunkte genannt werden, die bei einem Neuantrag für ein SPZ zu beachten wären:

Profil einer Kinderklinik

Seite 3: Das BSG hat mit seinem Urteil versäumt, die Struktur einer Kinderklinik daraufhin festzulegen, welches Ausmaß an möglicher Diagnostik und Therapie eine beantragende Klinik mit einem zukünftigen SPZ vorzuweisen hätte.

Leistungszahlen

Seite 6: Bei einem Neuantrag müssen harte Leistungszahlen der ein SPZ beantragenden Kinderklinik vorgelegt werden, z. B. für die Neonatologie, allgemeine Pädiatrie, Psychosomatik, Kinder- und Jugendpsychiatrie (sofern vorhanden) etc. sowie auch für die Frühförderung, wobei nachzuweisen ist, dass das Krankengut von der Zahl her in einer solchen Kinderklinik stabil ist.

Wartezeiten

Seite 7 und Seite 16/36: Hier werden die Wartezeiten in den SPZs kommentiert. Wartezeiten von 4 Monaten – so vom BSG als tolerabel angesehen – sind inakzeptabel und entsprechen nicht dem Auftrag eines SPZ nach § 119 SGB V, Betroffenen so früh als möglich Diagnostik, Therapie und einen Therapieplan anzubieten. Für SPZs können keine anderen Wartezeiten gelten als für die Anmeldung von Patienten generell in Arztpraxen. Erhebungen zeigen, dass 80 % aller Patienten jeglichen Alters nach 4 Wochen einen Ersttermin erhalten [8], wünschen Patienten allerdings einen Termin z. B. in einer Facharztpraxis, so warten 77 % aller Patienten maximal eine Woche auf den ersten Termin. SPZs sind Spezialeinrichtungen, weshalb auch hier längere Wartezeiten inakzeptabel sind. Nach §17 Abs. 1 Nr. 1 SGB I, haben Berechtigte Anspruch auf Sozialleistungen, die "zügig" zu erteilen sind.

Zahl der SPZs an einem Ort

Seite 8: Diese Frage ist bis heute nicht beantwortet. Geht es um die Frage, wie viele SPZs in einer Stadt akzeptabel sein könnten, so muss geprüft werden, wie umfassend eine Kinderklinik mit einem SPZ Patienten generell untersuchen und behandeln kann. Ebenso, ob die beantragende Klinik interdisziplinär und multimodal arbeitet sowie dabei alle Hilfen örtlich gebündelt und koordiniert werden und die betroffenen Patienten und ihre Eltern/Familien longitudinal behandelt und betreut werden können. Weiterhin ist der Leistungskatalog bezogen auf den ICD-10 entscheidend. Es ist unstrittig, dass das Angebotsspektrum umfassend sein muss, d. h. SPZs sind nicht Einrichtungen, wo z. B. vorzugsweise Kinder mit Zerebralparese diagnostiziert und behandelt werden sollen. Der Behandlungsauftrag in SPZs ist weit umfassender, da in §119 SGB V von "Krankheiten" gesprochen wird und damit Krankheiten nach dem ICD-10 gemeint sind. Hinzu kommen "seltene Krankheiten" und Krankheiten bei Kindern aus Flüchtlingsfamilien, die eines auszuweisenden Fachwissens bedürfen [11]. D. h. die Expertise des fachlichen Angebotes ist von Bedeutung hinsichtlich der Entscheidung, wie viele SPZs an einem Ort notwendig sind. Auch ist wichtig, wie groß das Einzugsgebiet zu einem ggf. weiteren zu planenden SPZ in einer Stadt ist und ob ein neu zu gründendes SPZ in einer Stadt weit entfernt von einer weiteren Stadt mit einem SPZ lokalisiert sein wird.

Das BSG legt sich in seinem jüngst ergangenen Urteil zu der Zahl von SPZs an einem Ort nicht fest (Seite 13/30). Auch räumt das BSG ein, dass für "die Ermittlung des Bedarfs an SPZs keine konkreten rechtlichen Vorgaben" bestehen (S. 13/31). Das BSG kommt zu der Überzeugung, dass die Nennung von bisherigen Anhaltzahlen für die Genehmigung eines SPZ als "grob" zu bezeichnen seien, da die "Orientierung an Einwohnerzahlen weder berücksichtigt, wie hoch der Anteil der Kinder an der Einwohnerzahl ist (s. o.), noch zu welchem Anteil diese auf die speziellen Leistungen von SPZs angewiesen sind (S. 14/31)." So sei es für Zulassungsgremien schwierig, den Einzugsbereich für ein SPZ exakt festlegen zu können.

Das BSG hat in seiner jüngsten Entscheidung auch nicht die Bedeutung des SGB IX (dieses Gesetzbuch wird durch das Teilhabegesetz ersetzt werden!) im Zusammenhang mit den einschlägigen gesetzlichen Vorgaben aus SGB V gewürdigt. Diese Würdigung war aber längst erfolgt [12, 13] als die Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin e. V. mit der Vereinigung Interdisziplinäre Frühförderung e. V. (Hannover), der Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung e. V. (Marburg/ Lahn ) sowie dem Bundesverband für Körper und Mehrfachbehinderte e. V. (Düsseldorf) zu dieser Thematik eingehend am 14. 12. 2000 in einem Memorandum Stellung bezogen hatte. Die Zusammenarbeit zwischen SPZs und den weiteren Institutionen war hier klar geregelt worden.

Das BSG spricht von einem immer dichter werdenden Netz (s. 18/39) von vorhandenen oder auch neu zu gründenden SPZs. Diese Feststellung ist zu begrüßen. In diesem BSG-Urteil wird von der Notwendigkeit einer "ausreichenden Behandlung" von Betroffenen gesprochen und diese sei sicherzustellen. Diese kann nur gewährleistet werden, wenn man bedenkt, wie groß der Themenkatalog in Sozialpädiatrischen Zentren ist [3]. So wird in diesem Zusammenhang in dem Urteil von einem "zunächst" vorhandenen SPZ gesprochen, womit das BSG betonen will, dass bei einem Neuantrag der "Bedarf" für die Neugründung eines ggf. weiteren SPZs zu überprüfen sei.

Fazit

Das aktuell bedeutsame Urteil des BSG aus dem Jahr 2016 – Sozialpädiatrische Zentren betreffend – muss zu einer intensiven Beratung in den sozialpädiatrischen Gremien führen. Es empfiehlt sich zu folgenden Fragen aus fachlicher Sicht Stellung zu nehmen:
  1. Erreichbarkeit von SPZs: Festlegung von tolerablen Entfernungen bis zum nächsten SPZ unter dem Aspekt, dass sich in dem Krankengut vielfach Patienten mit globalen Entwicklungsstörungen befinden, denen lange Fahrzeiten mit ihren Eltern nicht zuzumuten sind.
  2. Es sollte für SPZs festgelegt werden, welche durchschnittliche Wartezeit für Patienten bis zum 1. Termin tolerabel ist (BSG-Urteil vom 29. 06. 2011, Abs. 30). Sicherlich spielt hierbei das Alter der Patienten, aber auch die Art der Erkrankung eine bedeutsame Rolle.

Schlussbemerkung

Zwei BSG-Urteile aus den Jahren 2011 bzw. 2016 zu Planungen, ein Sozialpädiatrisches Zentrum zu beantragen, sind für die Pädiatrie und Sozialpädiatrie sowie Eltern- Selbsthilfegruppen von großer Bedeutung. Die in den beiden höchstrichterlichen Urteilen festgelegten Entscheidungen haben Auswirkungen auf die vielfach notwendige und umfassende Versorgung von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit globalen Entwicklungsstörungen, chronische Krankheiten unklarer, aber auch geklärter Genese, in jüngster Zeit auch Krankheiten, die den "neuen Morbiditäten" zuzuordnen sind. Schlack [12] weist deshalb zu Recht darauf hin, dass es über die letzten Jahrzehnte zu einer Verschiebung von den "primär körperlichen Krankheiten hin zu den Störungen der psychischen und funktionellen Entwicklung" bei Kindern und Jugendlichen und damit zu einer "Zunahme des "sozialen Gradienten" gekommen ist [12]. Dieser Herausforderung müssen sich bereits bestehende und zukünftig zu errichtende SPZs stellen.

Die Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin und die Bundesarbeitsgemeinschaft Sozialpädiatrischer Zentren haben mit zwei umfänglichen Dokumentationen die Aufgaben für Sozialpädiatrische Zentren unter dem Gesichtspunkt vor allem der Qualitätssicherung fortgeschrieben [13, 14]. Einerseits wird hier die mehrdimensionale Bereichsdiagnostik definiert und im Einzelnen beschrieben, anderseits wird die therapeutische Arbeit in SPZs als "Stufenkonzept der Behandlung von Entwicklungsauffälligkeiten in einem interaktiven Diagnostik-/Therapiemodell" vorgestellt.


Literatur
1. Pechstein J (1975) Sozialpädiatrische Zentren für behinderte und entwicklungsgefährdete Kinder. Deutscher Bildungsrat (Hrsg.) – Gutachten und Studien der Bildungskommission. Band 53
2. Klein G, Sander A, Speck O (1975) Sonderpädagogik 1 – Behindertenstatistik – Früherkennung – Frühförderung. Deutscher Bildungsrat (Hrsg.), Gutachten und Studien der Bildungskommission. Band 25, Klett – Verlag, Stuttgart
3. Bode H, Goldschmidt HP, Schirm H, Schlack H G, Voss H von (2004) Themenkatalog Sozialpädiatrie. Kinderärztl Prax 75: 408
4. Voss H von (2000) Grundlagen für die Arbeit im Sozialpädiatrischen Zentrum – Hintergründe zum "Altöttinger Papier". Kinderärztl Prax 71: 460
5. DGSPJ (Hrsg.) (2000)Grundlagen und Zielvorgaben für die Arbeit im Sozialpädiatrischem Zentrum (SPZ) – "Altöttinger Papier" – Beitrag zur Qualitätssicherung. Kinderärztl Prax 71: 464
6. Voss H von (1998) Leitbilder der Sozialpädiatrie und Jugendmedizin 1948 – 1998: Bilanz und Perspektiven. Kinderärztl Prax 69: 350
7. Voss H von (2009) Prinzipien der Montessori – Therapie. In: Das Kind 45: 10 – 31
8. Kassenärztliche Bundesvereinigung: http://www.ihre-aerzte.de/themen/wartezeiten/umfrage-wartezeiten.html
9. Voss H von (2000) Vergessene Kinder mit seltenen Krankheiten. Kinderärztl Prax 71: 50
10. Voss H von (2001) Kodifizierung des Sozialgesetzbuches IX – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen verbessern. Kinderärztl Prax 72: 126
11. Sozialgesetzbuch IX (2001) Memorandum zur gesetzlichen Regelung der Frühförderung und Frühförderung in Deutschland durch Sozialpädiatrische Zentren und Interdisziplinäre Frühförderstellen im Sozialgesetzbuch IX. Kinderärztl Prax 72: 127
12. Schlack HG (2012) "Neue Morbidität" im Kindes- und Jugendalter: Thesen zur Pathogenese und Folgerungen für Prävention und Intervention. Vortrag. 4. Präventionstagung der Bundesärztekammer, Berlin, 13. 3. 2012
13. Hollmann H, Kretzschmar C, Schmid RG (2014) Das Altöttinger Papier – Grundlagen und Zielvorgaben für die Arbeit in Sozialpädiatrischen Zentren- Strukturqualität, Diagnostik und Therapie. In: Qualität in der Sozialpädiatrie, Band 1
14. Schmid RG (Koordinator) (2015) Stufenkonzept der Behandlung von Entwicklungsauffälligkeiten in einem interaktiven Diagnostik-/Therapiekonzept. Internet, 1. Juni 2015, unter www.dgspj.de


Korrespondenzadresse
© Monica Garduno
Univ. Prof. em. Dr. med. Dr. h. c. Hubertus von Voss

Privat-Praxis für Soziale Pädiatrie und Jugendmedizin – Rehabilitationswesen im:
Zentrum für Humangenetik und Laboratoriumsdiagnostik
Lochhamer Straße 29
82152 Martinsried

Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2017; 88 (6) Seite 406-411