Ungeachtet des bestehenden Versorgungsbedarfs gibt es in Deutschland bisher nur vereinzelt Pflegefachpersonen an Schulen. Wie ist der aktuelle Stand? Und wie kann man die Verbreitung des Konzepts der Schulgesundheitsfachkräfte beschleunigen?

Nicht nur durch die veränderte gesundheitliche Lage von Kindern und Jugendlichen wie dem Anstieg an chronischen Erkrankungen [1], sondern auch aufgrund des zunehmenden Ausbaus von Ganztagsschulen [2] und der unzureichenden Umsetzung der Inklusion [3] steigt die gesundheitspolitische Relevanz für einen neuen niedrigschwelligen Ansatz zur gesundheitlichen Versorgung im Setting Schule [4]. Doch wie muss ein solches Setting aussehen?

Obwohl der größte Anteil der im Jahr 2017 erbrachten Gesundheitskampagnen in den Bildungseinrichtungen erfolgte [5], mangelt es weiterhin an ganzheitlichen Konzepten, die fest im Schulsetting verankert sind [6] und die gesundheitliche Versorgung der Kinder und Jugendlichen während der Schulzeit sicherstellen [7].

In vielen Ländern Europas sowie im angloamerikanischen Raum hat sich der international anerkannte Beruf der School Health Nurse bzw. Schulgesundheitsfachkraft (SGFK) etabliert [8, 9]. Die Schulgesundheitspflege setzt genau an der Schnittstelle zwischen Bildungs- und Gesundheitssystem an und besitzt dadurch die Fähigkeit, auf die gesellschaftlichen Herausforderungen frühzeitig zu reagieren [10]. Die Ausgestaltung der Aufgabenbereiche der SGFK wie auch ihre institutionelle Anbindung variieren zwischen den Ländern. Das Tätigkeitsprofil der SGFK umfasst einerseits die Akutversorgung und medizinische Behandlungspflege, andererseits übernehmen die SGFK Aufgaben der Gesundheitsförderung und Prävention. Neben weiteren Aufgabenbereichen stellen die SGFK häufig das Bindeglied zwischen den Kooperationspartnern innerhalb und außerhalb des Settings Schule dar [10,11]. Durch diesen Setting-Ansatz steht allen Schulkindern – unabhängig von dem Sozial- und Migrationsstatus oder den familiären Hintergründen – eine primäre Ansprechperson für alle gesundheitlichen Belange zur Verfügung [7], weshalb das Konzept einen wichtigen Public-Health-Beitrag leistet [10].

Doch ungeachtet des bestehenden Versorgungsbedarfs gibt es in Deutschland bisher nur vereinzelt Pflegefachpersonen an Schulen. Eine Vorreiterrolle nimmt das länderübergreifende Modellprojekt der Schulgesundheitsfachkräfte an öffentlichen Schulen in den Bundesländern Brandenburg und Hessen ein [12]. Basierend auf diesem Ansatz haben inzwischen auch Bremen (HB), Hamburg (HH) und Rheinland-Pfalz (RP), eigene Projekte umgesetzt [13].

Forschungsarbeit: Warum hinkt Deutschland hinterher?

Laut Tannen et al. hat sich das Konzept auch in Deutschland als "vielversprechende Innovation erwiesen, mit der den gesundheitlichen Herausforderungen im Setting Schule künftig zielgerichteter begegnet werden kann" [4, S. 2]. Dennoch stellt sich die Frage, warum das Konzept der SGFK in Deutschland, im Vergleich zu anderen Ländern [4], noch nicht so weit verbreitet ist. Angelehnt an die Diffusionsforschung, die betrachtet, warum sich manche Innovationen gemessen an der Zeit schneller verbreiten als andere [14], wurde deshalb in der hier beschriebenen Forschungsarbeit ermittelt, wie der Diffusionsprozess gestaltet sein muss, damit das Konzept der SGFK vermehrt Anwendung findet. Die Erkenntnisse sollen zur Beschleunigung der Verbreitung des Konzepts in Deutschland dienen.

Definition der 4 Kernelemente der DOI (Diffusion of Innovations)

❶ Innovation
Laut Rogers handelt es sich bei einer Innovation um eine Idee, Handlung oder einen Gegenstand, der/die von einem anderen Individuum als neu wahrgenommen wird. Untersuchungen, bei denen die DOI zugrunde gelegt wurde, haben gezeigt, dass die folgenden 5 Eigenschaften von Innovationen, Einfluss auf die Diffusionsgeschwindigkeit nehmen: Der relative Vorteil (1) beschreibt den Umfang, mit dem eine Innovation als besser wahrgenommen wird als das Bisherige. Das Ausmaß, in dem eine Innovation mit den bestehenden Werten, Normen, Erfahrungen und Bedürfnissen übereinstimmt, wird als Kompatibilität (2) verstanden. Komplexität (3) meint den Schwierigkeitsgrad, mit dem eine Innovation anzuwenden ist. Unter Erprobbarkeit (4) wird das Ausmaß verstanden, mit dem eine Neuheit getestet oder geprüft werden kann. Der Grad, mit dem das Ergebnis einer Innovation für außenstehende Personen sichtbar ist, wird als Beobachtbarkeit (5) definiert.

❷ Kanäle und Quellen
Massenmedien (Radio, Fernsehen) gelten in der DOI als schneller und effizienter Kanal zur Informationsverbreitung, mit dem viele Individuen erreicht werden. Interpersonelle Kanäle (persönlicher Austausch) stellen gerade – was die Wahrscheinlichkeit zur Übernahme einer Innovation betrifft – jedoch das effizientere Medium dar. Über beide Kanäle können die Informationen aktiv (selbstständig ermittelt) oder passiv (an sie herangetragen worden) gewonnen werden. Neben den Kanälen beschleunigen oder verlangsamen kosmopolitische und lokale Quellen die Diffusion. Kosmopolitische Quellen stammen von außerhalb eines sozialen Systems (sogenannte Change Agents, z. B. Wissenschaftler). Lokale Quellen (sogenannte Meinungsführer, z. B. Gemeindepfarrer) hingegen gehören demselben sozialen System an.

❸ Zeit
Laut Rogers durchläuft jedes Individuum einen Innovations-Entscheidungs-Prozess, der 5 Stufen umfasst:

  • In der ersten Stufe (Wissen) erwirbt der potenzielle Übernehmer Kenntnisse über die Existenz, den Nutzen und die korrekte Anwendung der Neuheit.

  • In der zweiten Stufe (Überzeugung), bildet er im positiven oder negativen Sinne eine Einstellung zu ihr.

  • Die dritte Stufe (Entscheidung) wird abgeschlossen, wenn das Individuum eine Handlung ausführt.

  • Setzt das Individuum die Innovation selbst ein, ist die vierte Stufe (Implementierung) abgeschlossen.

  • In der letzten Stufe (Bestätigung) sucht das Individuum nach Zustimmung für die getroffene Entscheidung.

❹ Soziales System
Bei einem sozialen System handelt es sich um eine Art kollektives Lernsystem, in dem Erfahrungen mit den Neuheiten über zwischenmenschliche Netzwerke weitergegebenen werden. Dieses Netzwerk beeinflusst maßgeblich die Wahrscheinlichkeit zur Innovationsübernahme. Darüber hinaus können die Strukturen des Systems (z. B. Rangordnung innerhalb einer Behörde) die Ausbreitung von Innovationen beschleunigen oder hemmen. Die Normen (z. B. kulturelle Überzeugunge), die innerhalb eines sozialen Systems herrschen, stellen einen weiteren Grund für die Verbreitung von Innovation dar [14, 17, 19].

Diffusionstheorie – Verbreitung von Innovationen verstehen

Die Theory of Diffusion of Innovations (DOI) [15] von Everett M. Rogers, der 1962 als einer der Ersten den Prozess der Innovationsübernahme untersuchte, diente als Grundlage der Untersuchung. Unter Diffusion versteht Rogers einen wechselseitigen Kommunikationsprozess, dessen wesentlicher Charakter in der Kommunikation über eine Neuheit liegt [14]. Entsprechend bezieht sich Diffusion nicht auf die Entwicklung einer Neuheit, sondern auf das Treffen einer Entscheidung für oder gegen die Übernahme einer Innovation [16, 17]. In dem Zusammenhang definiert Rogers "Diffusion as the process by which (1) an innovation (2) is communicated through certain channels (3) over time (4) among the members of a social system" [14, S. 11]. Angelehnt an die 4 Kernelemente der Definition (Definitionen siehe Textkasten) wurden die relevanten Aspekte der Innovation, die verwendeten Kanäle und Quellen, die einflussnehmenden Persönlichkeitsvariablen der Akteure und Faktoren in den sozialen Systemen näher betrachtet.

Zur Klärung der Fragestellung wurden im Rahmen einer sozialwissenschaftlichen Innovationsforschung qualitative leitfadengestützte Experteninterviews mit 6 Expertinnen/Experten aus den aufgeführten Projektbundesländern und Nordrhein-Westfalen (NW) durchgeführt. Die Datenanalyse erfolgte anhand der "inhaltlich strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse" von Kuckartz [18].

Ergebnisse, an denen man ansetzen kann

❶ Relevante Aspekte des Konzepts der SGFK

Der Analyse zufolge werden deutlich mehr Vorteile in dem Konzept der SGFK gesehen als Nachteile. Positive Effekte werden sowohl für die Schulkinder, Eltern, Lehrkräfte als auch für das Setting Schule wahrgenommen. Entsprechend wird Gesundheit in den Schulen nicht mehr als belastender, sondern positiver Faktor empfunden. Zieht man das Kernelement Zeit aus der DOI hinzu und verortet die Bundesländer im Innovations-Entscheidungs-Prozess, wird ein Zusammenhang zwischen der Anzahl an subjektiv empfundenen Vorteilen und dem Voranschreiten im Prozess erkennbar (Abb. 1). Die Interviewpersonen, die schon weiter im Prozess vorangeschritten sind, sehen mehr Vorteile als die Expertinnen/Experten, die sich noch in einer früheren Stufe des Prozesses befinden.

Darüber hinaus zeigt sich in der Untersuchung, dass die Umsetzung des Konzepts mit einer hohen Komplexität behaftet ist, einerseits, weil viele verschiedene Aspekte beachtet werden müssen, anderseits, weil sich die Aspekte (Abb. 2) gegenseitig bedingen. Zusätzlich wird die Ausgestaltung von Aspekten, wie die Festlegung der Anbindung, der Aufgabenbereiche und der Qualifikationen von einigen Interviewpersonen als schwierig empfunden. Deshalb muss davon ausgegangen werden, dass durch die hohe Komplexität des Konzepts die Verbreitung verlangsamt wird.

❷ Verwendete Kanäle und Quellen

Laut der Untersuchung handelt es sich bei dem Erlangen von Wissen um die Existenz des Konzepts um einen passiven Prozess, bei welchem den Expertinnen/Experten die Informationen durch andere Personen zugespielt wurden. Interpersonelle Quellen spielen bei der Informationssuche zudem eine größere Bedeutung als objektive Bewertungen, wie wissenschaftliche Publikationen. Des Weiteren haben sich die Expertinnen/Experten insbesondere bei den angrenzenden (Bundes-)Ländern über das Konzept erkundigt, woraus sich schlussfolgern lässt, dass die geografische Nähe eine Rolle bei der Informationssuche einnimmt. Die SGFK, Schulleitungen und Lehrkräfte mit Auslandserfahrung können als Meinungsführer ausgemacht werden. Im Rahmen der Untersuchung fällt die Anzahl an genannten Change Agents, die benannt werden, mit 3 Nennungen gering aus.

❸ Einflussnehmende Persönlichkeitsvariablen der Akteure

Das Ausmaß an Überzeugung für das Konzept der SGFK ist der Analyse zufolge ein Persönlichkeitsmerkmal, welches zur Überwindung der Unsicherheiten und Übernahme der Innovation dient. Darüber hinaus stellt ein hohes Maß an Überzeugung das erforderliche Engagement bei den beteiligten Akteuren und damit eine erfolgreiche Umsetzung des Konzepts sicher. Personen, die eine größere Toleranz gegenüber Unsicherheiten aufweisen und/oder gute Bewältigungsstrategien besitzen, schreiten zudem schneller im Innovations-Entscheidungs-Prozess voran. Die Erprobung der Innovation in Form eines Modellprojektes führt ebenfalls zur Reduktion von Unsicherheiten.

❹ Relevante Faktoren in den sozialen Systemen

Aus der Analyse geht hervor, dass die geringe Verzahnung des Bildungs- und Gesundheitssystems den Diffusionsprozess des Konzepts der SGFK verlangsamt. Zugleich wird aber auch deutlich, dass das Konzept der SGFK diesen tradierten Strukturen entgegenwirken kann. Unter anderem verdeutlichen Bestrebungen einiger Eltern, die ihr Kind nur noch an eine Schule geben wollen, wo eine SGFK arbeitet, eine hohe Kompatibilität mit den etablierten gesellschaftlichen Normen. Bezüglich der Netzwerke ist es zur Sicherstellung einer erfolgreichen Umsetzung zudem wichtig, alle relevanten Akteure einzubeziehen und ihnen relevante Informationen zukommen zu lassen.

Wesentliches für die Praxis . . .
  • Zur Beschleunigung der Diffusion des Konzepts der Schulgesundheitsfachkräfte bedarf es vermehrter politischer Bemühungen, insbesondere, um die Komplexität des Konzepts zu reduzieren.
  • Darüber hinaus sollten vermehrt Informationen zum Konzept der SGFK verbreitet werden, damit das Wissen um die Existenz der Innovation in der Bevölkerung erhöht wird und Unsicherheiten bei den beteiligten Akteuren abgebaut werden.
  • In dem Zusammenhang sollten sich auch alle pädiatrischen Fachgesellschaften als Change Agents einbringen und so vereint stärker die Verbreitung des Konzepts der SGFK fördern.

Literatur
1. Kuntz B, Waldhauer J, Zeiher J, Finger JD, Lampert T (2018) Soziale Unterschiede im Gesundheitsverhalten von Kindern und Jugendlichen in Deutschland – Querschnittergebnisse aus KiGGS Welle 2. Journal of Health Monitoring 3 (2): 23 – 44. doi:10.17886/RKI-GBE-2018-067
4. Tannen A, Adam Y, Ebert J, Ewers M (2022) Schulgesundheitspflege an allgemeinbildenden Schulen- SPLASH Teil 2: Implementationsbegleitung und Wirkungsanalyse. Charité – Universitätsmedizin Berlin. Accessed January 5, 2022. https://www.researchgate.net/publication/329130867_Schulgesundheitspflege_an_allgemeinbildenden_Schulen_-_SPLASH_Teil_2_implementationsbegleitung_und_Wirkungsanalyse
8. Böhmann J, Ellsäßer G (2021) Schulgesundheitsfachkräfte (SGFK) an öffentlichen Schulen im Land Brandenburg – eine wirksame Ressource für die Schülergesundheit. Analysen der Tätigkeiten und der Vernetzung. Delmenhorster Institut für Gesundheitsförderung (DIG); Accessed September 10, 2021. https://schulgesundheitsfachkraft.de/abschlussberichte-dokumente/?file=files/SGF_DOKUMENTE/berichte-2021/evaluationsberichte/analysen-der-taetigkeit-und-der-vernetzung.pdf.
11. Schmitt S, Görres S (2012) Schulgesundheitspflege in Deutschland? – Eine Übersichtsarbeit zu Aufgaben und Rollen von School Nurses. Pflege. 25 (2): 107 – 117. doi:10.1024/1012-5302/a000186
12. Heinrichs K, Romberg A, Ewers M (2021) Schulgesundheitspflege in Brandenburg –SPLASH II. Ergebnisse einer Evaluationsstudie zu ausgewählten Gesundheitsindikatoren. Charité – Universitätsmedizin Berlin. Institut für Gesundheits- und Pflegewissenschaft; 2021. Accessed April 14, 2021. https://igpw.charite.de/fileadmin/user_upload/microsites/m_cc01/igpw/Publikationen/Working-Paper/WP_21-01.pdf
14. Rogers EM (2003) Diffusion of Innovations. 5th ed. Free Press
15. Iqbal M, Zahidie A (2021) Diffusion of innovations: a guiding framework for public health. Scand J Public Health. Published online May 31, 2021: 1 – 5. doi:10.1177/14034948211014104
16. Kuckartz U (2016) Qualitative Inhaltsanalyse. Methoden, Praxis, Computerunterstützung. 3rd ed. Beltz Juventa
Hinweis: Nicht aufgeführte Quellen können bei der Verfasserin des Artikels erfragt werden.


Korrespondenzadresse
Christina Mersmann

Master of Public Health
Noldestraße 6
33613 Bielefeld
Tel.: 01 76/84 87 45 42

Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2022; 93 (6) Seite 478