Bindehautentzündung? Das Kind darf nicht in öffentliche Einrichtungen kommen, die Kita hat Kind und Eltern zum Arzt geschickt. Was ist zu tun?

Jeden, jeden Tag werden Kinder mit der Frage einer "ansteckenden Bindehautentzündung" vorgestellt. Die Kita oder der Kindergarten hat Eltern und Kind geschickt, es darf nicht kommen, und nun soll der Arzt eine "ansteckende Bindehautentzündung" ausschließen oder bestätigen. In den allermeisten Fällen lässt sich diese Frage nur mit "jein" beantworten: Es liegt eine Bindehautentzündung vor, sie ist auch ansteckend, aber es handelt sich trotzdem nicht um eine ansteckende Bindehautentzündung im engeren Sinne.

In aller Regel sehen wir im Rahmen eines katarrhalischen Infektes verschleimte Augen – genau wie die Rotznase und die katarrhalische Otitis. Letztere ist viel unangenehmer als die katarrhalische Konjunktivitis und kann in eine eitrige Otitis übergehen, aber man sieht sie nicht, und deswegen werden die Kinder damit auch nicht so oft zum Arzt geschickt. Ein "Rotzauge" aber, das scheint was ganz Schlimmes zu sein, und wenn es nicht die Erzieher sind, so sind es andere Eltern, die sich darüber aufregen, dass ein Kind mit so "vereiterten Augen" in die Einrichtung kommt.

Was ist zu tun?

Obwohl sich (fast) alle darüber einig sind, dass Antibiotika hier nichts zu suchen haben, werden sie in der Regel doch rezeptiert (ob die Eltern sie dann in den Konjunktivalsack überhaupt hineinbekommen, steht auf einem anderen Blatt). Die beste Behandlung besteht darin, das Gesicht mit einem normalen Waschlappen und reichlich Wasser zu waschen. Aber das genügt heute vielen nicht mehr, weil die Einrichtung das Kind so ja nicht nimmt. Also daheim bleiben, auskurieren ... und wieder einmal bestätigen, dass man durch das Schaffen von noch so viel Plätzen zur Kinderbetreuung nicht verhindern kann, dass sie doch häufig daheim bleiben müssen und die munter weiterarbeitenden Eltern eine teure Illusion der Politik sind.

Eine Oma, Kinderfrau oder Tagesmutter kann mit einem sonst gesunden Kind mit "Rotzauge" umgehen – nicht aber eine öffentliche Einrichtung. Bescheinigen, dass das Kind "frei von sichtbar ansteckenden Krankheiten ist" können wir nun mal leider nicht, aber ebenso wenig das Problem mit antibiotischen Augentropfen lösen – ut aliquid fiat. Damit wird das Kind dann präpariert, denn sonst bleibt nur der tägliche Kompromiss: Mama oder Papa müssen zuhause bleiben.

Die Schöpfer der 800.000 Krippenplätze haben die Millionen von zusätzlichen Arztbesuchen ebenso wenig bedacht wie die zwei- bis dreimal höheren Fehlzeiten, die bei allen Beteiligten Stress aufkommen lassen. Da die Väter meist die Besserverdienenden sind, bleiben in der Regel die Mütter daheim. Dann braucht das Kind plötzlich doch seine Mutter. Es ist ein Jammer, mit anzusehen, wie die ohnehin so kurze Kleinkindzeit heute in vielen jungen Familien in Dauerstress ausartet.

So werden wir Pädiater auch bei zurückgehenden Kinderzahlen wohl nicht arbeitslos werden, weil wir die Gatekeeper-Funktion haben: Wir werden gebraucht, oder auch missbraucht – für Krankschreibungen ebenso wie zum Zugang für die ausufernden Therapiewünsche, die zum großen Teil das an Alltagserfahrung zurückbringen sollen, was im heutigen Kinderumfeld nicht mehr vorhanden ist: von der Kommunikation bis zur Bewegungsförderung. Das Einzige, was uns dabei in Zukunft ein Bein stellen wird, ist – neben dem wahrscheinlich anders angesiedelten Selbstbild, ständig gesunde Kinder für krank erklären zu müssen – der eigene fehlende Nachwuchs.

Dr. Stephan H. Nolte, Marburg


Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2016; 87 (1) Seite 6