Harald Bode, Uwe Büsching und Ulrich Kohns (Hrsg.), 288 Seiten, 16 Abb., 2016, Thieme-Verlag, Stuttgart. ISBN 978-3-13-202331-4; 99,99 Euro

Bei einer im Auftrag der Dt. Akademie für Kinder- und Jugendmedizin 2011 durchgeführten Analyse des Vorstellungsgrundes von über 51.000 kleinen Patienten in kinderärztlichen Praxen waren die sog. "neuen Morbiditäten" – das sind vor allem die nachfolgend zu besprechenden psychosomatischen Krankheitsbilder – mit 7,2 % vertreten. Sie spielen also in der Praxis eine bedeutende Rolle. Andererseits werden in vielen Kinderkliniken diese Störungsbilder im Weiterbildungskanon der angehenden Kinder- und Jugendärzte nur unzureichend berücksichtigt und auch in der deutschen pädiatrischen Fachliteratur fanden sich bisher außer einigen Monographien der Kinder- und Jugendpsychiater keine substanziellen Veröffentlichungen. Umso wichtiger ist es daher, dass die Herausgeber H. Bode, U. Büsching und U. Kohns zusammen mit weiteren Autoren aus der ambulanten Kinder- und Jugendmedizin, den Sozialpädiatrischen Zentren, der ambulanten und stationären Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie der ärztlichen und psychologischen Psychotherapie jetzt ein umfassendes Werk über die psychosomatische Grundversorgung in der Pädiatrie vorlegen.

Unter psychosomatischen Störungen werden
  1. primär somatische Krankheiten mit sekundären psychischen Störungen,
  2. psychische Symptome in Folge einer organischen Erkrankung und
  3. somatoform-funktionelle Störungsbilder ohne Hinweis für eine körperliche Ursache verstanden.

In einleitenden Kapiteln werden entwicklungspsychologisches Basiswissen, psychosomatische Krankheitsmodelle, Grundlagen der Gesprächsführung, Beachtung von Risikofaktoren und zusammenfassende Vorgehensweisen für die körperliche und psychologische Diagnostik vorgestellt. Es werden Vorzüge der in der Sozialpädiatrie üblichen mehrdimensionalen Bereichsdiagnostik gegenüber der kinder- und jugendpsychiatrisch etablierten multiaxialen Diagnostik aufgeführt, da bei der ersteren die Ätiologie und die soziale Teilhabe besonders beachtet werden. Auch auf die Bedeutung der Dokumentation, auf Tagebücher, Videoaufnahmen und Protokolle wird explizit hingewiesen.

Bei der Vorstellung der Krankheiten wird das gesamte Spektrum, angefangen bei den Regulations- und Anpassungsstörungen des Säuglings über Fütter- und Schlafstörungen bis zu Ausscheidungs- und Essstörungen, Bauch-, Kopf-, Muskel-, Skelett und Thoraxschmerzen gut gliedert besprochen und immer wieder auf die unter Umständen umfangreiche Differenzialdiagnostik hingewiesen. Weiterhin werden funktionelle Störungsbilder des Bewusstseins, der Motorik und der Sexualität berücksichtigt, ebenso umschriebene Entwicklungsstörungen, ADHS, Verhaltensstörungen, Folgen von Misshandlung und Missbrauch, Probleme der Krankheitsbewältigung bei chronischen Erkrankungen wie Diabetes mellitus, Asthma bronchiale, atopischer Dermatitis, Adipositas, Epilepsie und Formen der Mehrfachbehinderung. Dabei wird auf die unbedingt notwendige Kooperation der verschiedenen Fachdisziplinen, auf die Gefahr vorzeitiger Festlegung einer Diagnose, auf das Primat eines sinnvollen Therapiekonzeptes, die Bedeutung der Langzeitbetreuung bis in das Erwachsenenalter, die praktische Umsetzung in der Praxis und die Problematik der Abrechnung mit den Krankenkassen hingewiesen. Insgesamt ist das Buch sehr übersichtlich gegliedert und hat ein ansprechendes Layout.

Die nachfolgenden kritischen Anmerkungen sollen den überaus positiven Gesamteindruck nicht schmälern und können vielleicht bei einer nachfolgenden und bald zu wünschenden Neuauflage berücksichtigt werden.

Zur Verdeutlichung der Bedeutung einer qualifizierten psychosomatischen Versorgung könnten noch mehr epidemiologische Daten und Hinweise zur Langzeitprognose dieser Patienten angeführt werden, die Beispiele aus der Praxis könnten noch erweitert werden, evt. auch mit der Präsentation von Fehldiagnosen.

Bei einigen Störungsbildern würde ich mir eine etwas klarere Diktion wünschen, wie sie z. B. im internationalen Schrifttum üblich ist, z. B. atopische Dermatitis anstatt Neurodermitis und Affektsynkope (breath- holding spell!) anstatt "Affektkrampf". Typisch ist dabei die Zyanose – bei einer "blassen Synkope" muss eine umfangreichere kardiale Diagnostik erfolgen. "Wachstumsschmerzen" sind ein immer noch unklares Phänomen – sind sie mehr einseitig oder doch überwiegend beidseitig? Bei einer rasch sich entwickelnden Adipositas sollte auch an das Erleben physischer oder sexueller Gewalt gedacht werden. Nicht erwähnt werden z. B. die Zöliakie, die Mukoviszidose und onkologische Erkrankungen.

Zur Auflockerung könnten vielleicht einige von Patienten gemalte Bilder u. ä. oder aktuelle Dokumentationsbögen für verschiedene Störungsbilder (z. B. bei Schlafstörungen, Enuresis, Kopfschmerzen) eingefügt werden.

Fazit: Gerade zum jetzigen Zeitpunkt ist das Buch eine wichtige Bereicherung der pädiatrischen Fachliteratur im Sinne einer Qualitätsverbesserung in der Versorgung eines großen und gesundheitspolitisch wichtigen Patientenkollektivs. Psychosomatisches Denken ist nicht an eine Berufsgruppe gekoppelt, sondern eine ständige Aufforderung zur kollegialen Kooperation.

Prof. i. R. Dr. Hans Michael Straßburg, Gerbrunn


Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2017; 88 (2) Seite 133