Kinder und Jugendliche mit psychosomatischen Erkrankungen standen in diesem Jahr im Fokus der Veranstaltung. Die Rahmenbedingungen für die Behandlung psychosomatischer Erkrankungen müssen erheblich verbessert werden, wie der Bericht von Raimund Schmid zeigt.

Die Bedeutung der psychosomatischen Grundversorgung von Kindern und Jugendlichen in Deutschland wird erheblich unterschätzt. Denn die Gefahr, dass psychosomatisch bedingte Bauch- oder Kopfschmerzen, ein gestörtes Essverhalten bei Jugendlichen oder schwerwiegende Fütterstörungen bei Kleinkindern chronifizieren, ist extrem hoch, berichte Prof Klaus-Michael Keller beim 48. Kinder- und Jugendärztetag in Berlin. Zudem seien psychosomatische Krankheiten bei Kindern "signifikant assoziiert mit einer geringeren gesundheitsbezogenen Lebensqualität." Psychosomatik – eine besondere Herausforderung gerade auch für sozialpädiatrisch orientierte Ärzte, hieß es in Berlin.

Die Vermittlung sozialpädiatrischer Kompetenzen stand auch im Fokus des eintägigen "Tandem Curriculum Sozialpädiatrie/Entwicklungsdiagnostik für Kinder- und Jugendärzte", die vom Sinsheimer Pädiater Dr. Folkert Fehr und Dr. Andreas Oberle aus Stuttgart durchgeführt wurden. "Es war ein voller Erfolg", berichtete Oberle, zugleich Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin (DGSPJ), weil so die Kompetenz der teilnehmenden Pädiater zur Durchführung von Entwicklungsdiagnostik und damit auch die Entscheidungsgrundlagen für therapeutische Konsequenzen gestärkt werden konnten.

Deutlich gestiegener Behandlungsbedarf

Dies traf beim Kinder- und Jugendärztetag in gleicher Weise auch für das Hauptthema – die psychischen und psychosomatischen Störungen und Auffälligkeiten – zu. Diese treten mit hoher Konstanz seit Jahren bei jedem fünften Kind auf. Dennoch wächst der Behandlungsbedarf in der Praxis deutlich an und kann derzeit in keiner Weise mehr gedeckt werden. Die Gründe hierfür sind vielfältig. So stehen heute gerade psychosomatische Krankheiten bei den Ärzten und auch in der Öffentlichkeit weit stärker im Fokus als dies noch vor 10 Jahren der Fall war. So leidet heute jedes vierte Kind im Alter zwischen 3 und 10 Jahren an Bauchschmerzen und mehr als jedes dritte Mädchen und jeder fünfte Junge im Alter von 11 bis 17 Jahren an Kopfschmerzen. Diese seien sehr häufig psychosomatisch bedingt, erklärte Kongressleiter Klaus-Michael Keller in Berlin. Bei Kleinkindern spiele insbesondere das exzessive Schreien und die Schlafproblematik eine zunehmende Rolle, da davon nach Angaben des Münchner Sozialpädiaters Volker Mall bereits 16 % aller jüngeren Kinder betroffen sind.

BVKJ-Präsident Dr. Thomas Fischbach führte diese hohen Inzidenzen vor allem darauf zurück, dass sich Eltern sehr viel häufiger als früher trennen und die Kinder unter dieser Trennungsproblematik am meisten leiden. Viele Eltern würden zudem zunehmend zwischen Beruf und Kindererziehung aufgerieben, worunter wiederum die Kinder am meisten getroffen würden. Hinzu kämen die unkontrollierte Nutzung von Smartphone und PC und neue Formen der Gewalt wie etwa das Cybermobbing. Da zudem in vielen Familien heute adäquate und kompensatorische Entwicklungsanregungen für Kinder ausblieben, würden immer mehr Kinder mit psychosomatischen Erkrankungen in den Praxen der Kinder- und Jugendärzte landen.

Keller wies zudem darauf hin, dass auch die Lehrer an den Schulen nicht mehr in der Lage seien, die negativen gesellschaftlichen Entwicklungen und auch die oftmals mit der Erziehung überforderten Familien teilweise aufzufangen. Und auch die Ärzte würden heute in der Aus- und Weiterbildung immer noch weit mehr Kenntnisse über somatische als über psychosomatische Krankheiten und Zusammenhänge erlangen. Ärzte mit entsprechenden Qualifikationen würden daher an allen Ecken und Enden fehlen. So gelang es nur 21,6 % der Kinder mit psychischen und psychosomatischen Beschwerden nach Ergebnissen der Bella-Studie (Befragung zum seelischen Wohlbefinden und Verhalten bei 7- bis 17-Jährigen) in den zurückliegenden 12 Monaten, einen Termin bei Spezialisten wie Kinder-und Jugendpsychiatern oder Psychotherapeuten zu erhalten. Auch hier müssten Pädiater – insbesondere auch Sozialpädiater und Allgemeinmediziner weit häufiger als früher die Behandlung übernehmen, da diese immerhin in 88 % aller Fälle in den zurückliegenden 12 Monaten einen Kontakt mit den betroffenen Kindern hatten.

Bei der ambulanten Behandlung von psychosomatischen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter gibt es aber für die ambulant tätigen Pädiater eine Reihe von Besonderheiten zu beachten. Die Therapie sollte in der Regel erst dann einsetzen, wenn mögliche organische Störungen weitgehend ausgeschlossen worden sind. Darauf hat der Altöttinger Sozialpädiater Ronald Schmid beim Kinder- und Jugend-ärztetag hingewiesen. Für viele Eltern sei es enorm wichtig, Gewissheit darüber zu haben, dass im Falle von möglichen psychosomatischen Krankheiten organische Ursachen tatsächlich ausgeschlossen werden können. Solange dies nicht feststehe, sei es nur bedingt möglich, eine entsprechende psychosomatisch ausgerichtete Behandlungsstrategie auf den Weg zu bringen, zumal Eltern oft solange von "Klinik zu Klinik rennen", bis sie endgültige Klarheit über die Erkrankung haben.

Dies bekräftigte auch Dr. Uwe Büsching aus Bielefeld in seinem Vortrag zur psychosomatischem Grundversorgung. Allerdings sei die organische Abklärung in der pädiatrischen Praxis mit der zur Verfügung stehenden Basisdiagnostik nur bis zu einem gewissen Grad möglich. Könne damit keine Klarheit geschaffen werden, müsse dann die gesamte apparative Schiene in spezialisierten Praxen oder Kliniken herangezogen werden.

Büsching bezeichnete in Berlin psychosomatische Erkrankungen als "vegetative Alarmreaktionen", denen in der Praxis ohne entsprechende Zusatzqualifikation nur schwer begegnet werden könne. Viele Störungen seien diffus, vage, in ihrer Ausprägung stark schwankend und langwierig. So suchten viele betroffene Eltern mit ihren Kindern nicht die ärztliche Praxis auf, weil die psychosomatischen Schmerzen so schlimm sind, sondern weil sie in der Regel schon sehr lange andauern. Dies sei auch die Erklärung dafür, dass die Schmerzschilderungen und die eher gelassene Körpersprache von Kindern mit psychosomatischen Erkrankungen oft nicht zusammenpassten.

Ressourcen fehlen

Eines blieb am Ende des Kinder- und Jugendärztetages 2018 dann auch unwidersprochen: Weder die Kinder- und Jugendärzte noch die Sozialpädiater noch die psychosomatischen Spezialisten verfügen über die Zeit oder die personellen und finanziellen Ressourcen, dieser Herausforderung gerecht zu werden. Denn der dafür erforderliche Behandlungs- und Betreuungsaufwand ist unter den heutigen Praxisbedingungen nicht zu leisten. Wer aus Zeitnot langfristige Anamnesen oder Testverfahren gar nicht anwenden kann und wer für psychosomatisch erbrachte Leistungen höchst stiefmütterlich honoriert wird, der darf sich nicht wundern, dass viele psychosomatisch erkrankte Kinder auf der Strecke bleiben – oder aber zu Alternativmedizinern oder Scharlatanen abdriften, wie in Berlin immer wieder beklagt wurde. Wenn das künftig verhindert werden soll, müssen hier die Rahmenbedingungen gerade für Kinder- und Allgemeinärzte – strukturell wie finanziell – spürbar verbessert werden.

Raimund Schmid


Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2018; 89 (5) Seite 360-361