Die Wissenshalbwertszeit wird immer kürzer. Schon nach 3 Jahren können wir die Hälfte unseres Wissens über Bord werfen. Stimmt das? Nur sehr bedingt, findet Kinderarzt Stephan Nolte. Es kommt drauf an, worüber man redet.

Lebenslanges Lernen hat schon Sokrates gefordert. Die ärztliche Berufsordnung hat die lebenslange Weiterbildung zur Pflicht gemacht. So heißt es in § 4 der MBO: Ärztinnen und Ärzte, die ihren Beruf ausüben, sind verpflichtet, sich in dem Umfange beruflich fortzubilden, wie es zur Erhaltung und Entwicklung der zu ihrer Berufsausübung erforderlichen Fachkenntnisse notwendig ist.

Die Wissenshalbwertszeit wird immer kürzer. Schon nach 3 Jahren können wir die Hälfte unseres Wissens über Bord werfen. Stimmt das? Das ist nur sehr bedingt richtig, denn es muss dabei beachtet werden, für welche Bereiche dies gilt, und worüber man redet.

Das Wissen um die Benzinpreise an der Tankstelle hat sicher eine extrem kurze Halbwertszeit. Allgemein menschliche Fragen haben aber eine sehr, sehr lange Wissenshalbwertszeit. An der conditio humana, dem Kreis von Werden und Vergehen, hat sich in der Zeit seit der Menschwendung nichts Grundsätzliches geändert. Geburt und Tod sind immer noch die Eckpunkte unseres Daseins, und mit ihnen haben wir immer noch nicht umzugehen gelernt. Auch haben sich die physiologischen Bedürfnisse des Organismus nicht geändert. In meiner täglichen Praxis erlebe ich, dass die banalen Fragen "Wie mache ich was, wann?" trotz jahrhundertelanger Traditionen immer neu gestellt werden. Wann soll mein Baby was zu essen bekommen, wann soll mein Kind wie schlafen, wie soll ich mein Kind anziehen, was ist zu warm, was ist zu kalt?

Scheinbar wissenschaftlich zu beantwortende Fragen verlieren schnell an Aktualität, etwa: Wann soll ich mit Beikost anfangen? Muss ich Karotten füttern? Was zu der einen Zeit seine Berechtigung hat, verliert diese in anderem Kontext. So kann man die Karotten nicht mehr mit Vitamin-A-Mangel rechtfertigen und das späte Zufüttern nicht mehr mit dem Allergierisiko. Die vergleichsweise späte Masern-Erstimpfung wegen eines langen Nestschutzes hat in Zeiten, wo die Müttergeneration selbst keine Masern mehr durchgemacht hat, keine Berechtigung mehr.

Schnell ändern sich Lebensumstände – noch schneller Meinungen und Ansichten. Jede Generation erfindet das Rad neu, muss es neu erfinden. Aber lassen wir uns nicht zu sehr von dem ewigen Innovationsstrom mitreißen. Die Grundlagen ärztlicher Tätigkeit sind ebenso unverändert wie die Grundlagen menschlicher Kommunikation. Es geht um Beziehung, Klärung, Problembewältigung. Dabei ist der Aspekt der menschlichen Beziehung noch derjenige mit der längsten Wissenshalbwertszeit, er geht in die Jahrtausende. Bei der Klärung ist es schon anders: Zwar kann man die meisten Alltagsfragen anamnestisch klären, andere jedoch erfordern differenzierte diagnostische Techniken, die sich immer mehr verfeinern und ausdehnen. Hier gibt es in manchen Bereichen tatsächlich erschreckend kurze Wissenshalbwertszeiten. Und auch die Problembewältigung hat sehr verschiedene Halbwertszeiten: von der immerwährenden Gültigkeit eines therapeutischen Gespräches bis hin zur kurzlebigen diagnostischen oder chirurgischen Spezialtechnik.

Die Angaben zur Wissenshalbwertszeit schwanken daher sehr stark. Im geisteswissenschaftlichen Teil der Medizin ist sie sehr lang, in den technischen Bereichen wesentlich kürzer, und in der Informationstechnologie sehr kurz. Letztlich hilft uns die Reflexion über die unterschiedlichen Halbwertszeiten nicht weiter, denn es verhält sich damit wie mit der Statistik: Man weiß nicht, für wen das statistische Ergebnis zutrifft. Und so ist das Hauptproblem im Umgang mit Halbwertszeiten in der Medizin, dass man nicht genau weiß, welche Hälfte des Wissens nach dieser Zeit noch gilt.



Autor:
Dr. Stephan H. Nolte, Marburg/Lahn


Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2018; 89 (3) Seite 164