Das Kinderformularium stellt unabhängige, evidenzbasierte Informationen zur Anwendung von Arzneimitteln bei Kindern zur Verfügung. Wie diese Datenbank Pädiatern im Praxisalltag helfen kann, erklärt Kinderarzt Dr. Nolte in seiner Praxiskolumne.

Bekanntlich sind für Kinder viele Arzneimittel gar nicht oder nicht für alle Altersgruppen und Indikationen zugelassen. Häufig fehlen kinderspezifische therapierelevante Informationen, Dosierungsangaben und kindgerechte Darreichungsformen. Die Pharmaindustrie ist trotz geschaffener Anreize nur mäßig daran interessiert, in dieser inhomogenen und besonders sensiblen Patientengruppe von 0 bis 18 zu forschen. Forschung an Kindern ist ohnehin durch Auflagen und Gesetze sowie methodische Probleme eingeschränkt.

Das führt dazu, dass regelhaft Medikamente außerhalb ihrer Zulassung „off-label“ verordnet werden müssen. Das ist nicht grundsätzlich verboten, ­unterliegt jedoch besonderer Sorgfalts- und Aufklärungspflichten. Oft ist es die einzige Möglichkeit, Kindern und Jugendlichen überhaupt eine adäquate Therapie zukommen zu lassen. Weil aber aussagekräftige Studienergebnisse zur Wirksamkeit und Therapiesicherheit fehlen, erhöhen sich die Risiken für Dosierungsfehler und unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW). Außerdem können Regresse drohen.

Trotz dieser dürftigen Ausgangs­lage finden sich in der wissenschaftlichen Literatur jenseits von Zulassungs- und Vermarktungsfragen viele Daten, die eine sachgerechte Off-Label-Verschreibung möglich macht. Sie sind häufig nicht direkt zugänglich und nur mühsam zu finden. Sie beruhen auf internen Hausempfehlungen, Konsensfindungen von Arbeitsgruppen oder Fachgesellschaften und sind von Ort zu Ort unterschiedlich. Eigene Recherchen sind aufwendig und im Akutfall häufig gar nicht leistbar.

Im Nachbarland wurde schon 2005 das niederländisches Kompetenzzentrum für Pharmakotherapie bei Kindern (NKFK) gegründet, welches 2008 das erste nationale „Kinderformularium“ ins Leben gerufen hat. Auch in Deutschland ist – still und leise – das „Kinderformularium“ als eine Datenbank für evidenzbasierte Informationen zur Anwendung von Arzneimitteln bei Kindern und Jugendlichen eingeführt und im Januar 2021 freigeschaltet worden. Sie steht kostenlos zur Verfügung und enthält neben weiteren pä­diatriespezifischen Informationen gut abgesicherte Dosierungsempfehlungen, die in manchen Fällen von den zugelassenen Dosierungen abweichen, aber durch wissenschaftliche Daten belegt sind. Die bestehenden Inhalte wurden erneut geprüft, durch eigene Recherchen erweitert und auf die deutschen Verhältnisse angepasst: So kommt es zu einer „evidenz­basierten Off-Label-Anwendung“.

Für mehr als 400 Wirkstoffe sind derzeit Informationen zum Zulassungsstatus, zu kinderspezifischen Nebenwirkungen, zu Warnhinweisen und Kontra­indikationen sowie zu geeigneten Präparaten aufgenommen. Das Projekt wird vom Bundesministerium für Gesundheit im Rahmen des Aktionsplans zur Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit in Deutschland gefördert. So informiert, können Pädiater nun mit gutem – oder zumindest besserem – Gewissen evidenzbasierte Off-Label-Behandlung leisten. Das hilft im Praxisalltag – jenseits der unglücklichen und unlösbaren Studienlage bei Kindern – doch ungemein.

Weitere Informationen:

Dr. Stephan H. Nolte, Marburg/Lahn


Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2022; 93 (5) Seite 338