Ist Big Data, ein Trend, der jetzt auch für die "schöne neue heile Welt" angepriesen wird, bald für viele Menschen gar nicht mehr so schön? Kinderarzt Stefan Nolte gibt Denkanstöße.

Die gesamte Datenmenge wächst mit besorgniserregender Geschwindigkeit. Bereits 2007 wurden in einem Jahr so viele Daten generiert wie in den gesamten 5.000 Jahren zuvor. Die Datenmenge wird sich in den kommenden 5 Jahren verzehnfachen. Wie soll man mit all diesen Mengen verfahren, wie sie verwalten und nutzbar machen?

Wie es mit Datenverwaltung im eigenen Haushalt aussieht, illustriert der Umgang mit digitalen Fotos. Ein einziges Bild hat je nach Auflösung einen Speicherbedarf, der dem kompletten Inhalt einer Festplatte der 80er-Jahre entspricht. Die fortschreitenden Speichermöglichkeiten führen dazu, dass immer mehr Bilddaten angehäuft werden. Bei jedem Familienfest, jedem Ereignis, jedem Urlaub erweitert sich die Datenmenge gewaltig. Selbst wenn heute Datum, Uhrzeit, GPS-Positionen und Orte mit gespeichert werden, wird es immer schwieriger werden, diese Daten sinnvoll zu verwalten.

So ähnlich geht es mir auch mit meinen Büchern, auch oder gerade mit Fachbüchern. Ich finde einfach nicht das richtige Zitat in dem richtigen Buch an der richtigen Stelle. Es ist einfacher und aktueller, eine Suchmaschine zu befragen, als in der eigenen Bibliothek zu stöbern. Unsere ganzen schönen Bibliotheken sind bald wertlos, schon jetzt finden sich kaum noch Antiquare, die willens sind, sie aufzukaufen.

Ein neuer Computer, der alle paar Jahre sein muss, bietet die große Chance, das Datenmaterial zu sortieren, Irrelevantes zu löschen oder die Reste auf einer externen Festplatte auszulagern. Theoretisch. Praktisch ist es so, dass der Anwender aufgrund ungeheurer Speicherkapazitäten die kompletten Ordner herüberzieht und den ganzen alten Rattenschwanz behält.

Mein erster Computer, ca. 1985, war schon gigantisch, ein AT der Firma Commodore: Er hatte eine 40-MB-Festplatte und einen 512-KB-Arbeitsspeicher, erweitert auf 640 KB. Wenn heute eine Website aufgerufen wird, werden nur für den Bildaufbau, die Banner, die Videos und Links so viele Daten abgerufen wie auf meinem ersten PC Platz hatten. Wo soll das noch hinführen? Und wie gehen wir auf Dauer mit den ganzen Auswüchsen um? Weil ich irgendwann in den letzten Jahren mal nach einem Flug nach Teneriffa gesucht habe, werden mir heute noch ständig Sonderofferten dorthin angeboten. Das Web vergisst nicht.

In der Medizin stehen wir, was Diagnose- und Therapiesysteme angeht, noch am Anfang, wenn auch die Komplexität medizinischer Entscheidungen ständig wächst. Aber auch hier geht es in Riesenschritten voran. IBM hat ein "cognitive computing technology"-System entwickelt, benannt nach dem ersten Chef der Firma, Watson, welches natürliche Sprache versteht und lernfähig ist. In Sekundenbruchteilen kann es Hypothesen erzeugen, bewerten, kombinieren und "evidenzbasierte" Antworten liefern. Allerdings ist nur ein kleiner Teil klinischen Wissens und Könnens einigermaßen abgesichert "evidence based". Aber auch die klinische Erfahrung bietet eine Wissensfülle, die durch das automatische Auswerten elektronischer Krankenakten genutzt werden könnte –, wenn nur die Daten nicht so völlig unstrukturiert wären.

Meine Befürchtung ist: Wenn Dr. Watson zum Zuge kommt, werden die Pfade und Algorithmen durch Programmierung so beeinflussbar, dass nur unter Einsatz möglichst vieler möglichst lukrativer apparativer Verfahren Diagnosen abgesichert und Therapien eingeleitet werden können. Damit wird die Medizin noch manipulierbarer, noch mechanistischer, noch inhumaner. Und dann wird es für jeden Einzelnen noch schwieriger werden, Informationen zu filtern, einzuordnen und für sich zu nutzen.

Big Data, ein Trend, der jetzt auch für die "schöne neue heile Welt" angepriesen wird, könnte bald für viele Patienten dann gar nicht mehr so schön sein.



Autor:
Dr. Stephan H. Nolte, Marburg


Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2017; 88 (5) Seite 284